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Grußwort des Rektors der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Ich begrüße Sie ganz herzlich zu unserer Gedenkfeier für die Angehörigen unserer Universität, die von politischer Verfolgung in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR betroffen waren. Unser Gedenken gilt nicht allein den Opfern, sondern auch den Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern, die sich für aus politischen Gründen verfolgte Studierende und Mitarbeitende eingesetzt, sich mit ihnen solidarisch erklärt und sie zu schützen versucht haben und dabei selbst in die Gefahr politischer Bedrängung geraten sind.
Wir haben das heutige Datum für unsere Gedenkveranstaltung bewusst gewählt. Heute vor 66 Jahren, am 17. Juni 1953 haben rund eine Million Menschen in Ost-Berlin und der DDR friedlich gegen die politischen Verhältnisse und die wirtschaftliche Situation in ihrem Land demonstriert. Grund dafür war die Verkündung von Maßnahmen anlässlich der 2. Parteikonferenz der SED, die zum „planmäßigen Aufbau des Sozialismus“ dienen sollten. Mit der Erhöhung von Arbeitsnormen bei gleichem Lohn sollte der Sozialismus weiter ausgebaut werden. Die Umsetzung dieser Maßnahmen führte jedoch zum Absinken des Lebensstandards, Unzufriedenheit und Bevormundung. Es kam zu einer tiefgreifenden wirtschaftlichen, politischen und sozialen Krise in der DDR.
Die SED-Führung war überfordert von den Demonstrationen am 17. Juni 1953, verhängte den Ausnahmezustand und schlug den Volksaufstand mit der Unterstützung der Sowjetarmee, Polizei und Staatssicherheit brutal nieder. Im Ergebnis gab es zahlreiche Tote und Verletzte, unzählige Festnahmen und Verurteilungen zu Gefängnisstrafen.
Zahlreiche Gäste unserer Gedenkveranstaltung haben diese Ereignisse selbst miterlebt. Sie demonstrierten als Studierende am 17. Juni 1953 in Halle und sahen sich anschließend politisch motivierten Disziplinar- und Strafverfahren ausgesetzt. Zu ihnen zählt Herr Dr. Priew, der mir im Vorfeld einen Brief schrieb, aus dem ich mit seinem Einverständnis wie folgt zitieren möchte:
„Ich gehöre zu den Hallenser Agrarstudenten, die am 17. Juni 1953 aus dem Verkehrshäuschen am Reileck zu der Kundgebung am Hallmarkt aufriefen. Unmittelbar vor uns stand ein sowjetischer Kradfahrer mit umgehängter MP. Angemerkt sei: An dieser Kundgebung nahmen über 60.000 Hallenser und Hallenserinnen teil. Laut dem Urteil des 1. Strafsenates des Bezirksgerichtes Halle/Saale vom 31.08.1953 rief ich mit folgendem Text auf: ‚Deutsche Männer, deutsche Frauen. Wir demonstrieren heute Abend um 18.00 Uhr auf dem Hallmarkt für Frieden, Einheit und Freiheit. Erscheint in Massen, verhaltet Euch diszipliniert, denn nur so können wir etwas erreichen. Einheit macht stark.‘“
Ein Aufruf zur friedlichen Demonstration führte tags darauf zu seiner Verhaftung und Verurteilung. In der Verfügung der Staatssicherheit über die Einleitung eines Untersuchungsverfahrens gegen Herbert Priew vom 2. Juli 1953 heißt es hierzu:
„Der Beschuldigte Priew, Herbert, hat sich am 17.6.1953 in Halle daran beteiligt, auf der Verkehrsinsel der Volkpolizei am Reileck das Mikrophon zu bedienen und hat dadurch die Bevölkerung aufgewiegelt und aufgeputscht. Damit hat er sich des Verbrechens nach Artikel 6 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik sowie der Kontrollrats-Direktive 38, III A III schuldigt gemacht.“
Insbesondere im dreißigsten Jahr des Mauerfalls sollten wir uns vor dem Hintergrund einer solch beispielhaft vorgetragenen Geschichte immer wieder bewusst machen, welchen Wert Rechtsstaat und Demokratie, und damit die Garantie der Menschenwürde als Ausgangspunkt staatlichen Handelns und des Staates insgesamt verkörpern.
Der Brief von Dr. Priew war nicht die alleinige Reaktion auf unsere Einladung. Es erreichten mich weitere E-Mails und Schreiben, in denen oftmals bedauert wurde, aus gesundheitlichen oder anderen terminlichen Gründen nicht an unserer Festveranstaltung teilnehmen zu können.
Aber in allen Schreiben wurde Freude und der Dank zum Ausdruck gebracht, dass dieses Gedenken stattfindet.
Diesen Dank möchte ich weitergeben an die Initiativgruppe um Frau Hinz, Frau Dr. Nielsen, Herrn Dr. Runge und den verstorbenen Dr. Rolf Lorenz, die den Impuls für die heutige Ehrung gaben.
Mein Dank gilt auch meinem Amtsvorgänger, Udo Sträter, sowie Herrn Prof. Dr. Stengel. Unter dem Rektorat von Udo Sträter wurde die genannte Kommission etabliert und unter der Leitung von Kollegen Stengel als Rektoratsbeauftragtem die Aufarbeitung der Universitätsgeschichte in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts in Angriff genommen. Die Kommission ist seit 2012 tätig, hat die Fakten aus der Universitätsgeschichte in den Archiven erforscht und zusammengetragen, Zeugen von politischen Repressionen gegen Mitarbeitende und Studierende befragt und Dokumentationen von Verfolgung und Widerstand zwischen 1945 und 1989 akribisch zusammengetragen. Diese Arbeit ist bei weitem noch nicht abgeschlossen.
Mit der heutigen Veranstaltung erinnert die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg ein weiteres Mal an die dunklen Seiten ihrer Geschichte. Bereits im November 2013 gedachte man mit der Veranstaltung unter dem Titel „Ausgeschlossen“ an die Hochschullehrer, die zur Zeit des NS-Regimes aus dem Dienst der Universität Halle entlassen wurden. Es ist die permanente Aufgabe und gehört zum Selbstverständnis unserer Universität, sich der Vergangenheit zu stellen, diese aufzuarbeiten und der Opfer zu gedenken. Geschichte ist für uns insofern auch immer Verantwortung für unser heutiges Tun. Universitäten als Orte zweckfreier und parteipolitisch neutraler Wissenschaft gehören mit zum Fundament der freiheitlichen Gesellschaft. Das ist allerdings nicht selbstverständlich und dieses Fundament ist ausgesprochen fragil, es kann jederzeit
zerbrechen. Es ist daher eine dauernde, nie enden wollende Aufgabe auch der Universität, die freiheitliche Gesellschaft und ihren Rechtsstaat zu verteidigen. Der 17. Juni, zu dem es heute zahlreiche Gedenkveranstaltungen in ganz Deutschland gibt, und auch unsere heutige Veranstaltung hier an der MLU, rufen das wieder in Erinnerung.
Halle, 17. Juni 2019 | Prof. Dr. Christian Tietje |