Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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Zeitzeugnis

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Studierende!

Man hat aus Anlass dieser Gedenkfeier heute beschlossen, zwei Zeitzeugen zu Wort kommen zu lassen. Sie, verehrte Gäste, werden verstehen, dass für den Zeitzeugen, wenn er seine Aufgabe wortwörtlich nimmt, der Anlass nicht unbedingt ein feierlicher sein kann. Das hängt mit dem Charakter des heute von mir in Erinnerung zu rufenden Geschehens zusammen. Es hängt aber auch mit Aufgabe und Figur des Zeitzeugen selbst zusammen. Vielleicht sollte man bescheidener von Situationszeuge oder von Gelegenheitszeuge sprechen.

Wie auch immer: Der Zeitzeuge gilt einerseits als eine Art von Wundertier, das bestaunt wird, weil er persönlich mit Dingen und Ereignissen in Kontakt gewesen ist, die der Nachkomme, wenn überhaupt, nur vom Hörensagen kennt und die ihm schwer verständlich sein mögen.

Andererseits haftet dem Zeitzeugen der Geruch des Unwissenschaftlichen oder wenigstens des Vorwissenschaftlichen an, weil es ihm an Objektivität mangle, einer Objektivität nämlich, die sich erst herausbilde, wenn die bedachten Ereignisse sich gewissermaßen gesetzt hätten, ein nötiger Abstand zu ihnen gewonnen wäre, die subjektive Befangenheit, ja Betroffenheit, selbst sich verflüchtigt hätten.

Zugegebenermaßen erleidet das Zeitzeugnis durch nachfolgende Ereignisse eine Übermalung, ja eine ungewollte, oft aber sogar beabsichtigte Deutung. Sicher gehört zu den Aufgaben des Zeitzeugen das Erzählen von vergangenen Dingen, zumal, wenn es etwas von bleibendem Wert transportiert. Aber gehört das Erzählen in die Aula einer Universität?

Was und warum aber, trotz all dieser Bedenken, ist der gealterte, von seinen Erinnerungen wachgehaltene und in gewisser Weise auch bestimmte, Zeitzeuge eingeladen, zu berichten und Zeugnis abzulegen? Wohl doch zu allererst deshalb, weil selbst Erfahrenes und Erlittenes, Beobachtetes, Verinnerlichtes und gelegentlich ins Vergessen Verbanntes, weil Unverstandenes und doch nicht Verlorenes plötzlich in Klarheit erscheinend endlich sich so oder so in persönliche Substanz gewandelt hat. An dieser Stelle erscheint der Zeitzeuge vor dem Historiker voll in seinem Recht und im Besitz einer eigenen Art von Objektivität.

Was den Zeitzeugen heute an diesem Tage besonders bewegt, sind Erinnerungen an den beobachteten und persönlich erlebten Beistand in bedrohlichen Situationen durch Lehrerinnen und Lehrer, Kommilitoninnen und Kommilitonen, die damals alle Furcht vor eigenen Nachteilen hintan gesetzt haben, als sie bedrohten Mitmenschen Mut zusprachen.

Meine Damen und Herren,

die Nachkriegsjahre und noch die 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts führten Studierende und Professoren zusammen, die, soeben der Nazidiktatur entronnen, gerade im freien Denken einer Zivilgesellschaft sich übten und nun sich unvermittelt einer neuen diktatorischen Ideologie gegenübersahen. Diesmal handelte es sich um einen Fremdimport in Gestalt des sogenannten Dialektischen und Historischen Materialismus, der sich sehr schnell eine wie auch immer geartete „Säuberung“ aller Lebens- und Denkbereiche anmaßte.

In der fraglichen Zeitspanne befanden sich unter den Studierenden eine kleine Zahl von ehemaligen Kriegsteilnehmern sowie eine größere Zahl von Abiturienten und Absolventen der neu gegründeten Arbeiter- und Bauern-Fakultäten. Die Professorenschaft wies besonders unter den Naturwissenschaftlern Lücken auf, die entstanden waren, als die aus Mitteldeutschland abziehende amerikanische Besatzung Professoren zwangsweise abtransportierte, um sie nicht in die Hände der Sowjets geraten zu lassen. Um die Lücken schnell zu füllen, wurden bei der Auswahl neuer Lehrkräfte zunächst beide ideologische Augen zugedrückt.

Die Ereignisse, an die ich heute erinnern will, liegen also etwa ein halbes Jahrhundert zurück. Gemeint sind vor allem die geistigen, seelischen und gewissensmäßigen Bedrängnisse, in die eine ganze Reihe von Angehörigen unserer Universität durch politisch-ideologische, durch Gewalt und Bedrohung unterstützte Maßnahmen der Besatzungsmacht und ihrer deutschen Funktionäre geraten waren.

Meine Zeitzeugenschaft bezieht sich vor allem auf Studierende der Martin-Luther-Universität Halle in der Zeit von 1949 bis 1956, die zugleich Mitglieder der Jungen Gemeinde oder der Evangelischen Studentengemeinde waren. Die Vorwürfe von SED und FDJ diesen kleinen Gruppen gegenüber umfassten – expressis verbis – Sabotage, Kriegshetze, Mordhetze und Sittlichkeitsvergehen.

Die politisch-ideologische Begründung dieses plötzlichen und systematischen Angriffs muss verstanden werden als die Installation der Machtstruktur der sowjetischen Siegermacht. Diese Machtstruktur beruhte auf einer Ideologie, die sich im Besitz der Kenntnis allgemein erwiesener und daher allgemein gültiger Gesetze der Menschheitsentwicklung wähnte. Im Bereich dieser Art von Ideologie galt nur die Alternative von Freund oder Feind. Der Umgang mit dieser Alternative war daher eine Machtfrage. Die Installation der für den gesellschaftlichen Bereich gültigen Gesetze erforderte nach den Vorstellungen von Partei und FDJ vor allem kämpferisches Gebahren, wenn es sein musste auch gewalttätige und geheimpolizeiliche Maßnahmen, da mit Widerstand „rückschrittlicher“ Kräfte zu rechnen sei.

Das kämpferische Gebahren wurde phasenweise zum Selbstzweck. Also musste die Gegnerschaft der Unbelehrbaren auf Dauer gestellt werden, um die „Kampfpose“ zu rechtfertigen, die mit der Zeit auf immer neue Bereiche der Gesellschaft ausgedehnt wurde. Wer den Widerstand gegen die verordnete Ideologie – auch späterhin noch – wenigstens argumentativ aufrecht zu halten versuchte, wurde in den Akten der Staatssicherheit als „Politisch-Ideologischer Diversant“, abgekürzt „PID“, geführt und mit Nachteilen im Berufsleben bestraft.

Für die Einen war es sehr bald der Oppression zu viel: Sie zogen sich in sich selbst zurück oder verließen die DDR. Nicht Wenige kamen nach reiflicher Abwägung ihrer persönlichen Bedrohungssituation, in die sie Eltern, Geschwister und auch Freunde einbezogen, zu dem Entschluss, die DDR durch die Flucht nach Westberlin zu verlassen. Sie vermieden die Reichsbahn und wurden nachts per Auto von Freunden nach Berlin chauffiert.

Andere indessen versuchten einen modus vivendi zu praktizieren, der auch die Anstrengung einschloss, in Not geratenen Mitmenschen in hilfreicher Weise beizustehen. Es hat etwas Tröstendes und  Ermutigendes, wenn wir heute an sie erinnern.

Erlauben Sie mir, anhand von Notizen aus einem Erlebnisbericht im Rahmen der Evangelischen Studentengemeinde Halle des Winter- und Sommersemesters 1953 einen Eindruck von der Art der gewaltsam- ideologischen Bedrängnisse zu geben, in die viele gerieten, die sich der von der Parteimacht verordneten Denkweise nicht anschließen wollten.

Ich zitiere aus diesem Bericht bzw. interpretiere:

„Und nun sind wir also vor aller Öffentlichkeit für Verbrecher erklärt worden […] Man nennt uns Banditen, Agenten, Spione, Saboteure, gekaufte Elemente. Man bringt uns mit dem amerikanischen Geheimdienst […] in Verbindung und gießt alle Schmutzkübel der Verleumdung über uns aus. Man führt [falsche – JR] Zeugen gegen uns vor und [selbstgebasteltes – JR] Beweismaterial, die ganze Presse und die Volksmeinung. Eine Jugendzeitung kennt monatelang nichts anderes, als unsere ‚feindliche Tätigkeit‘ zu ‚entlarven‘. Man spielt die ‚Junge Gemeinde‘ gegen die Kirchenleitungen aus und die ‚ehrlichen [d.h. die angepaßten – JR] Christen‘ gegen die ‚verbrecherischen Umtriebe‘ unserer regelmäßigen und öffentlichen Zusammenkünfte.“

Studenten berichteten, dass sie, wenn sie das Abzeichen der Jungen Gemeinde tragen – Kreuz auf der Weltkugel – aus der Mensa und dem Hörsaal gedrängt wurden – als „Provokateure und Feinde des Friedens. Man fordert auf, sich nicht mit ihnen an einen Tisch zu setzen und sie zu meiden.“ [...] Kaum ein Tag, an dem uns nicht irgendetwas trifft; kaum ein Tag, an dem nicht einer von uns in die Brandung des Hasses und der Gehässigkeit […] gerät.“ 

Und weiter heißt es in dem genannten Bericht:

„Die Radikalen verfolgen uns mit Haß, Hohn und Spott, in die die schwankende Masse zuweilen einstimmt. Die Ängstlichen sehen weg oder kommen nur bei Nacht. [...] Gute Bekannte kennen uns plötzlich nicht mehr. Die ‚Vernünftigen‘ halten uns für hoffnungslose Idealisten. Wer uns aber kennt, drückt uns still die Hand oder steht auch offen für uns ein.“[1]

Im Grunde genommen ging es darum, die Christen unter den Mitgliedern der FDJ – also der SED-Jugendorganisation, eigentlich offen für alle Jugendlichen – zum Widerruf ihrer Mitgliedschaft in der Studentengemeinde zu bewegen, und wenn erfolglos, sie aus der Studentenmatrikel zu streichen. Die Ausschlussverfahren wurden im Stil von Tribunalen in Versammlungen von 50 bis 100 radikalisierten FDJlern sowie von einer Clacque von Parteimitgliedern aus Industriebetrieben, die den Ton angaben, geführt. Ich zitiere noch einmal aus dem Erlebnisbericht:

„Wir hatten noch nie solche Ausbrüche von Haß und Beleidigungen, Anhäufungen von Verleumdungen, Lügen […], [...] willkürlichen Anmaßungen erlebt und konnten nur schwer mit dieser Situation umgehen.“

Ähnliche Verfahren sahen sich Studenten ausgesetzt, die nicht Mitglieder der FDJ waren, sich aber öffentlich von dem Studentenpfarrer lossagen sollten. Unerträglich war diese Situation auch, weil ein formales Verbot der Studentengemeinde nie ausgesprochen wurde. Es bedeutete für die auf diese Weise Geschmähten sehr viel, wenn sie in Momenten, in denen Argumente nichts vermochten, Kommilitonen und Professoren in der Menge entdeckten, die ihnen in der einen oder anderen Weise hilfreich zur Seite standen. 

Wer zu dem Entschluss kam, Bedrängten hilfreich beizuspringen, lernte sehr schnell, dies in einer persönlichen Form zu tun. Hier und da konnte er die Erfahrung machen, dass eine persönliche Intervention noch am ehesten honoriert wurde. Wer dagegen versuchte, Hilfe für Bedrängte durch Ansammlung von Gleichgesinnten ins Feld zu führen, zog sich den gefährlichen Vorwurf der feindlichen Gruppenbildung zu und geriet selbst in Gefahr. Undurchsichtige Gruppenbildung, wie alles, zu dem Partei und Geheimpolizei keinen Zugang hatten, galt in deren Augen allein schon als Verbrechen. Der schlimmste Vorwurf, der hier und da laut wurde, war der der sogenannten Boykotthetze, also der politischen und sozialen Diskriminierung von Partei und Staat.

Unmittelbar nach der Verhaftung des Studentenpfarrers Johannes Hamel wurden fünf mir unbekannte Studierende insgeheim ebenfalls verhaftet, um sie in stundenlangen Verhören durch die Staatssicherheit zu belastenden Aussagen zu bewegen. Ein sechster Student entging der Festnahme durch einen glücklichen Umstand.

Bald machten Gerüchte die Runde, dass Studierende insgeheim zu regelmäßigen Berichten vor der Staatssicherheit gezwungen würden. Diese Gerüchte und ihre Ausschmückungen führten immer wieder zu panischen Ängsten, eben weil sie seitens der Staatssicherheit mit Absicht im Ungewissen gehalten wurden. Erst später begann sich herumzusprechen, dass die Einweihung vertrauenswürdiger Dritter oder gar der Öffentlichkeit in die persönliche Situation sofort zur Beendigung der zwangsweisen Stasikontakte führte.

Um die ideologische Erziehung der sogenannten „Werktätigen“, und in besonderem Maße der Studierenden, im gewünschten Sinne kontrollieren zu können, hat die Partei das sogenannte Kollektiv erfunden. Jeder Arbeiter, jeder Wissenschaftler, jeder Werktätige, also auch jeder Studierende, sollte einem Kollektiv angehören. Das Kollektiv der Studierenden hieß „Seminargruppe“. Wer sich von der Seminargruppe fernhielt oder aus ihr ausgeschlossen wurde, lief Gefahr, exmatrikuliert zu werden.

Doch zurück zu den Tribunalen gegen missliebige Studierende: Wenn eine Mehrheit der Claque für die Exmatrikulation stimmte, folgte ein Disziplinarverfahren beim Prorektor für Studentenangelegenheiten, für das keine amtliche Ordnung existierte. In nicht wenigen Fällen setzten sich Professoren mündlich oder schriftlich für ihre Studenten ein. Sie zogen sich oft ähnliche Anfeindungen zu.

Auf dem Höhepunkt der Kampagne, etwa im Frühsommer 1953, kam es zu zahlreichen Exmatrikulationen von Studentinnen und Studenten, die auf ihrem christlichen Standpunkt beharrten.

Was die Opfer dieses Geschehens wie diejenigen, die ihnen beizustehen versuchten, gleichermaßen frappierte, ja gelegentlich zu lähmen drohte, war etwas, das ich den Verblüffungseffekt nennen will: Verblüffung angesichts der Suspendierung jeder Form von argumentativem, nach Wahrheit strebendem Diskurs und jeder Form von Achtung gegenüber dem Gegner, stattdessen die Androhung von Gewalt, gerechtfertigt durch die nicht hinterfragbare Parteiideologie, für die es nur die Machtfrage gab. Direkter Ausdruck der Macht war das Geschrei der Masse. Wer sich dem plötzlich ausgesetzt fand, erlebte jene Verblüffung, die ihn in Schweigen verfallen ließ – taktisch übrigens das Beste, was ihm in diesem Falle passieren konnte.

Die Studentengemeinde hatte früher schon versucht, ähnlichen Angriffen durch Angebote von Gesprächen über naheliegende Themen zu begegnen. Eine Vortragsreihe, moderiert von dem Mathematikstudenten Rolf Lorenz, behandelte die Frage „Was ist der Mensch?“. Die Vorträge wurden von Professoren in Vorlesungssälen gehalten und von Hunderten von Studierenden besucht. Eine zweite Vortragsreihe behandelte 1953 das Thema „Was heißt ‚die Wahrheit sagen‘?“. Der Rektor verbot die Veranstaltung in universitären Räumen, sodass in kirchliche Säle ausgewichen werden musste.

Einige Zeit später, als sich die heiße Phase des einseitigen Kampfes gelegt hatte, die Bevölkerung sich mit der Diktatur abzufinden begann, also eine Art Normalisierung der Diktatur, wie man das genannt hat, eintrat, versuchten wir, die Situation zu verstehen und lasen Gustave le Bons Psychologie der Massen, Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft und David Riesmans Einsame Masse.

Wer in dieser Situation der Anfeindung und Diffamierung, des Ausschlusses aus der Gesellschaft, allein blieb, sich verkroch und in Zweifel über seine Überzeugung geriet, gelangte schnell ans Ende seiner Kräfte, geriet in Gefahr, sich selbst zu verleugnen und so irgendwie zu überwintern. Er lernte, äußerlich mit den Wölfen zu heulen, also sich scheinbar anzupassen, oder zu resignieren, was sein Berufsziel betraf. Oder er entschloss sich, in realistischer Abschätzung seiner Kräfte, die Zone des sogenannten Klassenkampfes zu verlassen, „ging in den Westen“ und tauchte dann nicht selten in eine sich ihm gegenüber gleichgültig verhaltende Gesellschaft ein.

Nicht wenige fanden mit viel Geduld und auf vielerlei Umwegen, die schließlich auch der Staat gelegentlich anbot, – und auch wieder mit Unterstützung von Hochschullehrern – doch noch zu einem Berufsziel.

Für die zum Bleiben in der DDR Entschlossenen war dies oft die Stunde der sogenannten Hauskreise. Nicht erst im Rückblick erweist sich diese Erfindung der Form des freundschaftlichen und vertrauensvollen Zusammenlebens als eine der über Jahre, ja Jahrzehnte tragfähigen Überlebensalternativen. Gleichgesinnte trafen sich regelmäßig abends oder an Wochenenden in Wohnungen und gelegentlich auch mit Kindern in den Ferien. Man besprach Berufs- und Schulprobleme und suchte gemeinsam nach Lösungen schwieriger Situationen. Man las gemeinsam oder referierte schwer zugängliche schöne Literatur
oder Fachbücher.[2] Andere Freundeskreise nahmen sich Themen vor, die über längere Zeit bearbeitet wurden: Fragen der Lebensbewältigung in starr ideologisch bestimmter Umgebung, die Bedeutung des Freiheits- und des Wahrheitsbegriffs in der Gesellschaft usw. Die dafür notwendige Literatur beschaffte man sich, wenn nicht anders möglich, aus Westdeutschland auf Wegen, die viele kannten.

Wer Glück hatte, gewann gelegentlich einen Professor aus dem westlichen Ausland, der sich zu einem Kongress in der DDR aufhielt, als Referenten. In den 50er und 60er Jahren waren auch Gelehrte aus der DDR zu entsprechenden Hilfestellungen bereit. Später ließ die Bereitschaft dazu allerdings nach, Theologieprofessoren ausgenommen. Der Besuch von Fachkolloquien mit Referenten aus Westdeutschland und dem westlichen Ausland wurde verboten, ebenso der Besuch der Jahrestagungen der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina.

Wer sich Mühe gab, konnte seinen Hauskreis und andere mit hektographiertem Material versorgen.

Hauskreise hatten und haben zum Teil eine bemerkenswerte Lebenskraft auch über das Ende der SED-Diktatur hinaus. Man kann sagen: Sie entwickelten eine Lebensform sui generis, ein Gespür dafür, dass Wahrheit und Erkenntnis ihren Preis, aber auch ihren Lohn haben. Ihre Geschichte verdient eine wissenschaftliche Erforschung.

Ich breche hier jetzt ab. Am 10. Juni 1953 nahm die DDR-Regierung einen großen Teil ihrer Zwangsmaßnahmen zurück. Eine Woche später geschah das, was häufig eintritt, wenn der politische Druck auf die Bevölkerung nachlässt: Es kam zu dem Aufstand, dessen Erinnerung wir heute begehen. Aber schon im Herbst desselben Jahres wurden oppressive Maßnahmen hier und da in verdeckter Form wieder aufgenommen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

Anhang

Ein abstruses Ereignis, das uns noch kaum die kurze Zeit später einsetzenden oppressiven Maßnahmen von SED und FDJ ahnen ließ:

Im Jahre 1950 etwa wurde zu einem wissenschaftlichen Kolloquium in den großen Hörsaal des Zoologischen Instituts am Domplatz eingeladen. Der Raum füllte sich schnell mit Studierenden und Professoren. Die vordersten Reihen blieben Arbeitern aus der chemischen Industrie vorbehalten. Zunächst wurde ein Präsidium der Veranstaltung einstimmig „gewählt“ aus den Reihen von SED und FDJ. Der Sessel in der Mitte blieb dem einstimmig „gewählten“ Vorsitzenden der Veranstaltung, dem Genossen Stalin vorbehalten – symbolisch. Als Redner wurde ein sowjetischer Zoologie-Professor vorgestellt. Da er kein Deutsch sprach, wurde der Vortrag auf Deutsch verlesen. Er betraf das Problem der Parthenogenese bei Insekten, ein Thema, das damals ideologisch virulent war. Das Ergebnis des Vortrages lautete: Parthenogenese in der lebenden Natur gebe es nicht, da sie den Aussagen des Dialektischen und Historischen Materialismus widerspräche. Tobender Beifall in den vordersten Reihen, betretenes Schweigen in den hinteren Reihen. Eine Diskussion war nicht vorgesehen.

Dr. habil. Jürgen Runge

 


 

  1.  Jügen Runge; Bericht des ESG-Vertrauenskreises (12.2.–10.7.1953). In: Andreas Thulin: Durch Verhaftung ... das Handwerk legen. Die Evangelische Studentengemeinde Halle (Saale) 1953 und die Inhaftierung von Studentenpfarrer Johannes Hamel. 2. Aufl. Halle 2004, 60–69, hier: 61f.
  2.  Lektüre des eigenen Hauskreises, gegründet etwa 1953: Gustave Le Bon: Psychologie der Massen, José Ortega y Gasset: Der Aufstand der Masssen, Hanna Arendt, Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, Georg Picht, Dietrich Bonhoeffer, Helmut Gollwitzer, Karl Barth, Carl Friedrich von Weizsäcker, A. M. Klaus Müller, Martin Buber, Ernst Bloch, Karl Marx.

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