Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Baer, Reinhold

Baer, Reinhold

geboren:22.7.1902 Berlin
gestorben:22.10.1979 Zürich
Konfession:evangelisch, bis 1920 mosaisch
Vater:Fabrikant

Baer, Reinhold

Mathematiker

1928: Reinhold Baer nimmt auf Anraten seines akademischen Lehrers Helmut Hasse (1898–1979), der zu dieser Zeit bereits in Halle tätig ist, und mit der Befürwortung durch ihn einen Lehrauftrag für Analysis an der Friedrichs-Universität Halle an.

29. April 1933: Reinhold Baer wird durch die Universität Halle auf Grund des § 3 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums beurlaubt.

Nach der Einstellung seiner Gehaltsbezüge im September 1933 emigriert Baer nach Manchester an die dortige Universität.

Der wissenschaftliche Verlust für die Mathematik Deutschlands im Jahr der Regierungsübergabe an die Nationalsozialisten hätte kaum größer sein können: Mit der Beurlaubung von Reinhold Baer im April 1933 auf Grund seiner jüdischen Herkunft verliert die Universität Halle einen herausragend begabten Mathematiker, der zu diesem Zeitpunkt bereits die ersten Schritte auf seinem Weg in den Kreis der bedeutendsten Mathematiker des 20. Jahrhunderts getan hatte.

Das wissenschaftliche Leben Reinhold Baers ist durch herausragende Leistungen im Bereich der Algebra, speziell der Gruppentheorie, gekennzeichnet – zugleich aber auch durch die Tatsache, dass ihm an entscheidenden Punkten seines Lebens stets Mathematiker selbstlos helfend zur Seite standen, ihm den Weg zu weiterer Forschung ermöglichten. Sei es in der Zeit seiner wissenschaftlichen Findung, sei es in den folgenden Jahrzehnten des intensiven wissenschaftlichen Austauschs, sei es insbesondere aber auch in der dunklen Zeit des Nationalsozialismus und auf dem Emigrationsweg an die Universität Princeton sowie die Universitäten von North Carolina und Illinois. Die erfahrene Unterstützung und Hilfe prägen seine Weltsicht und ermöglichen es ihm, sein Wissen an mehr als 60 akademische Schüler weiterzugeben, ihnen seine Freude an der Beschäftigung mit Mathematik zu vermitteln. Auf diesem Fundament findet er 1957 die Kraft, einen Ruf auf einen Lehrstuhl für Mathematik an der Universität Frankfurt am Main anzunehmen. Auch der Besuch seiner Wirkungsstätten in Deutschland, an denen er vor seiner Ausweisung aus der Universität Halle arbeitete, den er im Jahre 1977 abstattete und während dessen er auch an der Universität Halle einen mathematischen Vortrag hielt, belegen Reinhold Baers Auseinandersetzung auch und gerade mit den Erfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus.

Am 22. Juli 1902 in Berlin als Sohn eines Fabrikanten geboren, studierte Reinhold Baer zunächst Maschinenbau an der Technischen Universität Hannover, wechselte aber bereits 1921 zum Studium der Mathematik und Philosophie nach Freiburg im Breisgau und 1922 nach Göttingen, wo er Zugang zum Arbeitskreis der Algebraikerin Emmy Noether (1882–1835) fand.

Die charismatische Forscher- und Lehrerpersönlichkeit Emmy Noethers kann als prägend für das wissenschaftliche Arbeiten ihrer akademischen Schüler und damit auch für Reinhold Baer angesehen werden. Aber mehr noch: Insgesamt sind die wissenschaftlichen Lehrjahre Baers durch einen Kreis von akademischen Lehrern begleitet und beeinflusst, die zu den führenden deutschen Algebraikern und Geometern der damaligen Zeit gehörten. Neben Emmy Noether waren dies insbesondere Alfred Loewy (1873–1935), Hellmuth Kneser (1898–1973), Helmut Hasse, Ernst Steinitz (1871–1928) und Otto Toeplitz (1881–1940). Sie legten den Grundstein für die spätere lebenslange Hinwendung Reinhold Baers zur Algebra, speziell der Gruppentheorie. Die rasche und inhaltlich bedeutsam prägende und neu orientierende Entwicklung der Algebra in den 1920er Jahren, die Baer auf diese Weise unmittelbar und intensiv miterlebte, mag wesentlichen Anteil an dieser wissenschaftlichen Orientierung gehabt haben.

Nach einem einjährigen Stipendium an der Universität Kiel (1924–25) schließt Baer dort am 29. Juli 1925 sein Studium mit dem Rigorosum in Geometrie, mathematischer Analysis und Philosophie ab. 1927 promovierte er in Göttingen bei Hellmuth Kneser (Coreferent ist Richard Courant [1888–1972]) mit der Arbeit Zur Flächentopologie.

Auf Tätigkeiten als Lehrer in Wyk auf Föhr und an der Odenwaldschule (1925–26) folgte ab 1926 seine Assistenz an der Universität Freiburg i.Br. bei Alfred Loewy. In diesem Zeitraum wendete sich Baer endgültig der Gruppentheorie zu.

Es schloss sich 1928 seine Habilitation in Freiburg i.Br. mit der Arbeit Zur Theorie und Anwendung der Mischgruppen an.

Auf Anraten und Verwendung von Helmut Hasse wechselte Baer im gleichen Jahr an die Friedrichs-Universität Halle und wurde an die dortige Universität umhabilitiert.

Die Tätigkeit von Reinhold Baer als Dozent an der Universität Halle zeichnete sich von Anfang an durch intensive Beschäftigung mit grundlegenden algebraischen Fragestellungen aus. Ein Beleg dafür ist insbesondere das 1930 erschienene Buch Algebraische Theorie der Körper, das eine gemeinsame Überarbeitung und Kommentierung des gleichnamigen Aufsatzes von Ernst Steinitz durch Baer und Hasse darstellt, erweitert um Baers vielbeachteten Beitrag zur Galoistheorie.

Die Hallenser Zeit Baers war gekennzeichnet sowohl durch intensive und außerordentlich fruchtbare wissenschaftliche Arbeit (neben dem genannten Buch entstehen mehr als acht grundlegende Artikel zur Gruppentheorie) als auch durch vielgestaltige wissenschaftliche Kontakte. Hierunter fällt insbesondere auch seine Zusammenarbeit mit dem Leipziger Algebraiker Friedrich Wilhelm Levi (1888–1966), mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verbinden sollte.

Die Beurlaubung durch die Universität Halle traf Reinhold Baer während eines Urlaubsaufenthalts in Tirol. Seine Frau Marianne (geb. Kirstein; Heirat 1929, Geburt des Sohnes Klaus 1930) und er kehrten nicht mehr nach Halle zurück.

Im September 1933, nach endgültiger Einstellung der Gehaltszahlungen der Universität Halle an Baer, emigrierte er nach England. Dort hatte sich ein Komitee von Wissenschaftlern  gegründet, um deutschen Kollegen zu helfen, die aus politischen Gründen ihre Anstellungen verloren hatten. Auf diese Hilfe konnte Baer nun zurückgreifen. Es war ein Mathematiker-Kollege, der englische Zahlentheoretiker Louis Joel Mordell (1888–1972), der ihm durch seine Einladung nach Manchester in dieser schweren Zeit der Ausgrenzung half und durch die Vermittlung einer Anstellung im Department of Mathematics den weiteren beruflichen Weg Baers unterstützte. 

Zu einer ähnlichen Situation kam es zwei Jahre später. Wieder griff ein Mathematiker-Kollege helfend ein. 1935 wurde Baer durch den Zahlentheoretiker Hermann Weyl (1885–1955) eingeladen, an das neu gegründete Institute of Advanced Study der Universität Princeton (USA) zu kommen. Weyl, der selbst 1933 Deutschland verlassen hatte, weil er es mit seinen demokratischen Überzeugungen als unvereinbar ansah, in dem von Nationalsozialisten beherrschten Deutschland zu lehren, war zwei Jahre vorher ebenfalls dorthin gegangen.

Bis 1956, also mehr als 20 Jahre, blieb Reinhold Baer in den USA. Er lehrte und forschte dort an Universitäten in North Carolina und Illinois. Seine wichtigsten wissenschaftlichen
Arbeiten entstanden hier.

1957 fand Baer die Kraft, nach Deutschland zurückzukehren und einen Ruf als Ordentlicher Professor für Mathematik an die Universität Frankfurt am Main anzunehmen. Nach seiner Emeritierung 1967 ging er zu Gastvorlesungen an die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich. Dort verstarb er 1979.

Sein erfahrenes wie sein gelebtes Verständnis von Mathematik als Wissenschaft, die keine territorialen oder politischen Hindernisse oder Grenzen kennt, nur am forschenden Geist orientiert ist, sein Erleben von selbstverständlicher Zusammenarbeit und gegenseitiger Hilfe und Unterstützung unter Wissenschaftlern, speziell unter Mathematikern, machten es ihm möglich, am Ende seines Lebens ohne Groll, sondern mit Hoffnung und Interesse an den neuen Entwicklungen dorthin zurückzukehren, wo ihm einst in der dunkelsten Zeit seines Lebens die weitere Arbeit verwehrt worden war. Es war ihm ein Bedürfnis, 1977 die Stätten seiner wissenschaftlichen Arbeit vor 1933 aufzusuchen, sich im Gespräch mit Kollegen, Nachwuchswissenschaftlern und Studierenden davon zu überzeugen, dass der Geist der Wissenschaft sich wieder dort entfalten konnte, wo in der Zeit des Nationalsozialismus ihm selbst die Möglichkeit dazu genommen worden war.


Ausgewählte Publikationen von Reinhold Baer

  • Beiträge zur Galoischen Theorie. Berlin; Leipzig 1928.
  • Erläuterungen zu Ernst Steinitz Algebraische Theorie der Körper. In: Ernst Steinitz: Algebraische Theorie der Körper. Neu hg. von Reinhold Baer und Helmut Hasse, mit Erläuterungen und einem Anhang zur Galoistheorie. Berlin 1930 (zusammen mit Helmut Hasse).
  • Erweiterung von Gruppen und ihren Isomorphismen. Mathematische Zeitschrift 38 (1934), Heft 1, 375–416.
  • Linear algebra and projective geometry. New York 1952. 
  • Gruppen mit abzählbaren Automorphismengruppen. Göttingen 1970.

Quellen und Literatur

  • UAH PA 4062.
  • Laszlo Fuchs: Reinhold Baer’s work on abelian groups, Lecture Notes in Math. 874. Berlin-New York 1981, XV + XXI.
  • Karl Walter Gruenberg: Reinhold Baer. Bull. London Math. Soc. 13 (1981) 339–361.
  • Otto Helmut Kegel: Reinhold Baer (1902–1979). In: The Mathematical Intelligencer 2 (4) (1980), 181–182.
  • Max Pinl: Kollegen in dunkler Zeit. Teil III. Jahresbericht DMV, Band 73, Heft 4.
  • Peter Roquette: Über die algebraisch-zahlentheoretischen Arbeiten von Max Deuring. Jahresbericht DMV, Band 91, 109–125.
  • Helmut Siemon: Reinhold Baer in memoriam. Praxis Math. 22 (2) (1980), 55–56.
  • Ernst Steinitz: Algebraische Theorie der Körper, neu hg. von Reinhold Baer u. Helmut Hasse, mit Erläuterungen und einem Anhang zur Galoistheorie. Berlin 1930.
  • Deutsche biographische Enzyklopädie, Bd. 1, München 1995, 260–261; The Mathematical Legacy of Reinhold Baer. A Collection of Articles in Honor of the Centenary of the Birth of Reinhold Baer. Dept. of Mathematics, University of Illinois at Urbana-Champaign 2004.

Bilder

  • Foto 1: Reinhold Baer 1977 während seines Besuchs der Universität Halle (Aufnahme: Reiner Fritzsche, Halle).
  • Bild 2: Notizzettel, den Reinhold Baer 1936 einem Preprint beilegte, den er an seinen ehemaligen halleschen Kollegen Heinrich Brandt (1886–1954) schickte (Mit freundlicher Genehmigung von Gerhard Pazderski, Halle).
  • Foto 3: Nach 44 Jahren erstmalig wieder an der Universität Halle: Reinhold Baer während seines Vortrages am 23. Juni1977. (Aufnahme: Reiner Fritzsche, Halle).
  • Bild 4: Sein eigenhändiger Eintrag im Gästebuch der Sektion Mathematik.

Quelle: Friedemann Stengel (Hg.): Ausgeschlossen. Die 1933-1945 entlassenen Hochschullehrer der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Halle 2016, S. 11 - 20

Autorin: Karin Richter

Weitere Bilder und Dokumente:

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