Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Bremer, Otto

Bremer, Otto

geboren:22.11.1862 Stralsund
gestorben:8.8.1936 Halle
Konfession:evangelisch
Vater:Buchhändler

Bremer, Otto

Phonetiker, Dialektologe, germanistischer Sprachwissenschaftler

Als Sohn des konvertierten Buchhändlers Siegmund Bremer wurde Otto Bremer am 12. Oktober 1873 getauft und am 7. April 1878 dann auch konfirmiert. Nach dem Besuch des Gymnasiums seiner Heimatstadt (1871–1881) studierte Bremer deutsche Philologie und vergleichende Sprachwissenschaft in Berlin, Heidelberg und Leipzig, wo er am 11. August 1885 mit einer lautgeschichtlichen Arbeit zur germanischen Entwicklung des indogermanischen ē zum Dr. phil. promoviert wurde. Am 21. April 1888 folgte die Habilitation an der Vereinigten Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg mit einer Arbeit zur amringisch-föhringischen Mundart und Bremer erwarb die Venia Legendi für „Deutsche Sprache und Literatur“. Er blieb zeitlebens an der Universität Halle und wurde auf dem städtischen Gertraudenfriedhof eingeäschert und bestattet.

Über elf Jahre war Otto Bremer als Privatdozent am Deutschen Seminar tätig, bevor ihm erst am 21. Dezember 1899 der Professorentitel verliehen wurde, der jedoch mit keiner Stelleneinweisung verbunden war. Eine solche erfolgte erst 1904, als ihn der Minister nach mehrmaligen Anträgen der Fakultät schließlich zum etatmäßigen und d.h. beamteten außerordentlichen Professor für das Lehrgebiet „Germanische Philologie“ berief. Späterhin (zwischen 1910 und 1918) erfolgte zuerst eine Umdenomination für das Fach „Phonetik und allgemeine Sprachwissenschaft“, seit 1919 dann für „Phonetik, allgemeine Sprachwissenschaft und deutsche Mundartkunde“. Dabei ging sein Lehrgebiet weit über das Fach im engeren Sinne hinaus: „Gelesen habe ich [...] auch [...] germanische Altertumskunde, [...] Altnordisch und Friesisch, Niederdeutsche-Deutsche Mundarten [...], so daß ich sagen kann, ich habe eine Lücke im Betriebe der germanistischen Studien ausgefüllt“, schreibt er in einem Lebenslauf von 1921, der sich in seiner hallischen Personalakte befindet. Offensichtlich versagte man diesem Engagement die institutionelle Anerkennung, so dass er erst nach seinem 65. Geburtstag (22. November 1928) – jedoch noch vor Ende seiner Dienstzeit (Ende des Wintersemesters 1927/28 zum 30. März 1928) – am 13. März 1928 zum ordentlichen Professor ernannt wurde; aufgrund dieser Ernennung erfolgte nun zum 1. April 1928 statt der Pensionierung die statuserhaltende Emeritierung, die ihn späterhin teilweise schützte: So wurden die Maßnahmen des „Reichsbürgergesetzes“ vom 14. November 1935, die unter anderem dramatische Kürzungen des Ruhegehaltes jüdischer Beamter bestimmte, anfänglich für „Emeritierte Hochschullehrer“ ausgesetzt, teilte der Kurator der Martin-Luther-Universität Bremer am 23. Dezember 1935 mit. Schon von schwerer Krankheit gezeichnet musste Otto Bremer dann aber doch noch erleben, dass ihm mit Wirkung vom 31. Dezember 1935 als „nichtarischem Professor“ die Lehrbefugnis entzogen wurde: „Die Entziehung der Lehrbefugnis hat auch den Verlust Ihrer Dienstbezeichnung zur Folge“, teilte der Kurator der Universität dem schwerkranken Bremer in der zynischen Sachlichkeit eines Verwaltungsaktes am 25. Februar 1936 mit, nachdem er ihm nur sechs Monate zuvor, am 9. August 1935, ebenso sachlich zum 50-jährigen Doktorjubiläum herzlich gratuliert hatte: Im Kleinen und ganz Konkreten wird sie hier greifbar, die „Banalität des Bösen“ (Hannah Arendt), insofern zwischen Täter und Opfer scheinbar sachlich und ohne jedes persönliche Beteiligtsein allein in Form eines reinen Verwaltungsaktes vermittelt wird. Dem entspricht die wiederum gänzlich sachliche universitätsinterne Verwaltungsanordnung bezüglich aller „nichtarischen“ Hochschullehrer: „Die Vorgenannten sind aus den Personalverzeichnissen zu streichen.“

Schon mit seiner Habilitationsschrift hatte sich Bremer nachhaltig in die deutsche Mundartforschung eingeschrieben. Auch wenn er keinen Eingang in die neueren einschlägigen Fachgeschichten der Germanistik fand, so hat Otto Bremer doch wesentliche oder innovative Beiträge zur deutschen Dialektologie, zur Erforschung des Friesischen, zur Phonetik, zur germanischen Stammesgeschichte sowie auch zu theoretischen Fragen des Sprachwandels geliefert. So legte er für die Ortsgrammatikforschung des späten 19. Jahrhunderts die theoretischen und methodischen Grundlagen und führte sie mit der von ihm herausgegebenen und zum Teil auch verfassten Reihe der „Sammlung kurzer Grammatiken deutscher Mundarten“ auch ‚modellhaft‘ aus: Die mundartlichen Gegebenheiten werden nicht nur aufgelistet und als zum Beispiel lautliche beschrieben, sondern vielmehr werden sie unter Nutzung eines historischen Bezugsrahmens geordnet und in ihrer Entwicklung als systematische Lautgeschichte beschrieben. Damit gelang ihm eine „zusammenfassende Darstellung der Lautwandel-Vorgänge [...], die von der Basis der mittelalterlichen Sprachstufe zur heutigen Mundart geführt haben“, befand Ingo Reiffenstein 1982. Da er um die Schwierigkeit und auch um die Notwendigkeit der graphischen Widergabe gesprochener Mundart und ihrer eineindeutigen und d.h. intersubjektiv zweifelsfreien graphischen Fixierung bei gleichzeitiger Untauglichkeit des normalen Schriftalphabets wusste, schuf er zudem eine aus seinen phonetischen Studien (1893) fließende verbindliche Lautschrift. Aus der Einsicht in die notwendige Fixierung der gesprochenen und also flüchtigen mündlichen Rede floss zudem Bremers spätere (1910) Gründung des Schallarchivs zur Aufnahme und Konservierung gesprochener Sprache. Das Archiv besteht noch heute und gehört als bedeutender Teil der „Phonetischen Sammlung“ des Seminars für Sprechwissenschaft und Phonetik der Martin-Luther-Universität zu den Sammlungen der Universität. Den in seiner „Sammlung kurzer Grammatiken deutscher Mundarten“ umgesetzten Ansatz, die gegenwärtigen Lautverhältnisse der Mundart in ihrer historischen Genese zu beschreiben und zu erklären, hatte Bremer schon zuvor in seiner in die 14. Auflage des Brockhaus Konversations-Lexikons (1892) eingegangene Einteilung der deutschen Dialekte angewandt. Es ist bemerkenswert, dass Bremer hier wissenschaftsgeschichtlich sehr frühzeitig das zentrale Problem der Dialekteinteilung reflektierte, praktisch löste und damit eine „Vereinbarkeit von gegenwärtigem Zustand und geschichtlicher Herkunft der Dialekte und damit von Synchronie und Diachronie“ herstellte. So sah Bremer in seiner oft zitierten Arbeit zur Ethnographie der germanischen Stämme (1904) eine „stammeshistorische Orientierung“ der Mundartgrenzen, die hinsichtlich der jüngeren und an vokalischen Differenzen festgemachten Entwicklungen durch territorialpolitisch oder landschaftsgeographisch motivierte Beziehungen ergänzt wurde (Wiesinger 1983). Damit war Bremer schon früh einem erst sehr viel später ‚modern‘ werdenden, einem im Zusammenhang u.a. der Kulturraumforschung und Soziolinguistik entwickelten Ansatz gefolgt, sprachliche mit historisch-politischen sowie auch landschaftsgeographischen Verhältnissen zusammen zu sehen. Die Berücksichtigung dieses Ansatzes auch in der Lehre war für Bremer ein wichtiges Argument, mit dem er 1918 gegenüber dem zuständigen Minister um die Erweiterung seiner Denomination bat. Neben der Forschung und der aus dieser fließenden fachlichen Lehre war Bremer auch in der praktischen Spracharbeit vor Ort engagiert. Anlässlich seines 70. Geburtstages notierte die Saale-Zeitung am 22. November 1932, dass Prof. Dr. Otto Bremer sich um die hallische Mundart verdient gemacht hatte, die Hallische Zeitung erwähnt am 21. November 1932 zum selben Anlass, dass Bremer bis 1925 und über mehr als 15 Jahre lang Vorsitzender des hallischen Zweiges des „Deutschen Sprachvereins“ gewesen war.

Otto Bremer wurde für seine wissenschaftlichen Leistungen von mehreren Gelehrtengesellschaften bzw. Vereinen geehrt. Schon 1888 wurde er auswärtiges Mitglied der „Friesch Genootschap van geschied- oudheid- en taalkunde“ in Leeuwarden, 1892 wurde er auswärtiges Mitglied des Leeuwardener „Selskip for Fryske taal- en skriftenkennisse“ und schließlich 1903 Ehrenmitglied des „Vereins für siebenbürgische Landeskunde“.

Dass Otto Bremers wissenschaftliche Verdienste und Leistungen innerhalb seiner hallischen Universität nicht jene Anerkennung fanden, die er sich zweifellos gewünscht hatte, hatte seinen Grund wohl auch darin, dass sein Fachverständnis von dem noch herrschenden abwich und er somit in Konflikt zur etablierten Disziplin geriet. So hatte er in seiner 1918 an den Minister adressierten Bitte um Erweiterung des Lehrauftrages von „Phonetik und allgemeine Sprachwissenschaft“ auf das „Fach der deutschen Sprache“ unter anderem auch bemängelt, dass „im Universitätsunterricht“ immer noch und in Nachwirkung der Romantik das Mittelalter bevorzugt würde, wofür die „sogenannten Altgermanisten“ verantwortlich wären. Bremers Skepsis gegenüber ,den Altgermanisten‘ rührte womöglich auch daher, dass es besonders der ‚Altgermanist‘ Prof. Dr. Konrad Burdach gewesen war, der über viele Jahre hinweg verhindert hatte, dass Bremer eine „Beförderung“ auf eine außerordentliche Professur und somit ein berufliches Fortkommen erfuhr. So hatte die Fakultät schon fünf Jahre nach seiner Habilitation und akademischen Gepflogenheiten folgend am 22. Dezember 1893 jene „Beförderung“ des Privatdozenten Dr. Otto Bremer zum außerordentlichen Professor mit großer Mehrheit beim zuständigen Minister beantragt. In der Begründung wurde darauf hingewiesen, dass Bremer bereits zweimal nicht zum Vorschlage gekommen war, weil an der Eignung Zweifel geäußert worden seien. Mit dem Erscheinen seiner „Deutschen Phonetik“ (1893) sei diese aber nun zweifelsfrei erwiesen. Gegen diesen Fakultätsbeschluss legte Konrad Burdach ein „Separat-Votum“ ein, in dem er auf 16 Textseiten die gewünschte Beförderung mit dem wesentlichen Argument ablehnte, dass Bremer kein Philologe (i.e. Altgermanist) sei. Dieses Votum scheint seine Wirkung nicht verfehlt zu haben, da die Fakultät bei der Erneuerung des Antrags am 14. März 1899 darauf hinwies, dass man auf den seinerzeitigen Antrag keine Antwort seitens des Ministers erhalten habe. Auf diesen neuerlichen Antrag reagierte der Minister nun mit der rein titularen Ernennung zum Professor, die erwünschte Beförderung und die damit verbundene Übernahme in das Beamtenverhältnis blieb aber aus. Ebenso blieb die Antwort an die Fakultät aus: Als diese ihren Antrag auf Beförderung zum außerordentlichen Professor 1902 wiederholte, da verwies sie darauf, dass auch der letzte Antrag von 1899 ohne Antwort des Ministers geblieben sei. Diesem neuerlichen und dritten Antrag wurde schließlich entsprochen, die Beförderung zum außerordentlichen Professor und die damit verbundene Übernahme in das Beamtenverhältnis erfolgte am 18. August 1904. Der Grund für die nun möglich gewordene Beförderung lag wohl auch darin, dass der Altgermanist Burdach 1902 die Leitung der neu geschaffenen Forschungsstelle für deutsche Sprachwissenschaft an der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin übernommen und die Universität Halle verlassen hatte.

Man kann nur erahnen, wie Otto Bremer die nationalsozialistischen Zumutungen und Angriffe gegen seine persönliche Existenz empfunden haben muss. Zu der Sorge um sein Leben und die Existenz der Familie muss die gänzliche Erschütterung seines Weltbildes und all dessen getreten sein, wofür er bisher gestanden hatte. Otto Bremer war ein national gesinnter Konservativer, der viele Jahre seines Lebens der Deutschnationalen Volkspartei angehört und sich auch in Publikationen sowie auch Vorträgen einschlägig geäußert hatte. Während des Ersten Weltkriegs hatte Bremer im Auftrag des Ausschusses für Soldatenheime ca. 30 Vorträge an der Ost- und Westfront gehalten, Themen waren u.a.: „Was ist deutsch?“, „Die Völker und Sprachen Europas“, „Die Zukunft des Deutschtums“. Als ihm 1920 eine 14-tägige Beurlaubung zwecks Feldforschungen in Nordfriesland gewährt worden war, wurde er dort im  Zusammenhang der 2. Schleswigschen Abstimmungszone offensichtlich auch politisch aktiv. Denn die Hallische Zeitung berichtete am 11. März 1920, dass Prof. Dr. Otto Bremer durch die Internationale Kommission ausgewiesen worden war, weil er „dänischen Rednern gegenüber den deutschen Standpunkt deutlich zum Ausdruck gebracht“ hatte. Bemerkenswerterweise erinnerte die Hallische Zeitung in Würdigung seines 70. Geburtstages am 21. November 1932 an die seinerzeitige Ausweisung und konstatierte: „Dies hat ihn freilich nicht hindern können, auch weiterhin unbeirrt für deutsche Sprache und Art tätig zu sein.” Nur wenige Monate nach dieser positiven Würdigung seines nationalen Engagements wurde nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ am 7. April 1933 verabschiedet. In der Folge waren alle Beamten aufgefordert, Angaben insbesondere auch zu ihrer jetzigen und früheren Konfession sowie ihrer Abstammung zu machen. Bremer füllte als Konfession „evangelisch“ aus; die unter „4e“ des Fragebogens zu beantwortende Frage nach der Abstammung konnte übersprungen werden, wenn vorausliegend in „4d“ u.a. ausgewiesen wurde, dass man „Vater eines im Weltkrieg Gefallenen“ war. Mit Hinweis auf seinen vermissten und amtlicherseits für tot erklärten Stiefsohn ließ Bremer „4e“ unberücksichtigt. Man darf wohl Denunziation dafür annehmen, dass Bremer am 15. September 1933 durch den Preußischen Minister aufgefordert wurde, diese Frage „4e“ doch auszufüllen. Der Kurator der Universität leitete diese Aufforderung sogleich am 16. September 1933 an Bremer weiter und notierte, ohne bereits eine Antwort erhalten zu haben: „Professor Bremer ist demnach nichtarischer Abstammung.“


Ausgewählte Publikationen von Otto Bremer

  • Germanisches ē. I. Teil: Die lautgesetzliche entwicklung des idg. ē in den ältesten germanischen sprachen. In: PBB 11 (1885), 1–76 (Dissertation Leipzig 1885).
  • Einleitung zu einer amringisch-föhringischen Sprachlehre. In: Jahrbuch des Vereins für Niederdeutsche Sprachforschung 13 (1887), 1–32 (Nachtrag 160) (Habilitationsschrift Halle 1888).
  • Deutsche Phonetik. Leipzig 1893 (Neudruck Vaduz 1984).
  • Ethnographie der germanischen Stämme. Straßburg 1899 (2. Aufl. 1904).

Quellen und Literatur

  • UAH PA 4915.
  • Ingo Reiffenstein: Das phonetische Beschreibungsprinzip als Ergebnis junggrammatischer und dialektgeographischer Forschungsarbeiten. In: Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung, hg. von Werner Besch et al. 1. Halbbd., Berlin et al. 1982, 23–38, hier: 29f.
  • Hans-Joachim Solms: Otto Bremer (1862–1936). Ein jüdischer Germanist an der Universität Halle. In: Mitteldeutsches Jahrbuch 20 (2013), 76–84.
  • Peter Wiesinger: Einteilung der deutschen Dialekte. In: Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung, hg. von Werner Besch et al. 2. Halbbd., Berlin et al. 1983, 807–900, hier: 808f.

Bilder

Bild (1932) sowie alle Abbildungen Privatbesitz, Abdruck mit freundlicher Genehmigung durch die Enkelin Otto Bremers, Waltraud Roesel (Salzgitter).


Quelle: Friedemann Stengel (Hg.): Ausgeschlossen. Die 1933-1945 entlassenen Hochschullehrer der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Halle 2016, S. 41 - 51

Autor: Hans-Joachim Solms

Weitere Bilder und Dokumente:

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