Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Friedländer, Paul

Friedländer, Paul

geboren:21.3.1882 Berlin
gestorben:10.12.1968 Los Angeles
Konfession:evangelisch
Vater:Spediteur

Friedländer, Paul

Klassischer Philologe

Als Paul Friedländer 1932 ein Ordinariat für Klassische Philologie an der Universität Halle übernahm, lag bereits eine höchst erfolgreiche akademische Karriere hinter ihm. Seine Studienjahre in Berlin und Bonn hatten eine frühe Prophezeiung seines Bonner Lehrers Georg Loeschcke erfüllt und ihn zu einem „Philologen mit starken archäologischen Neigungen“ reifen lassen. 1905 wurde er mit einer von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff betreuten Studie über die argivische Sagentradition („Argolica“) in Berlin promoviert; 1911 habilitierte er sich am selben Ort mit einer großangelegten Arbeit über Kunstbeschreibungen aus frühbyzantinischer Zeit („Johannes von Gaza und Paulus Silentiarius“). Äußere Zeichen der Anerkennung waren zunächst ein Extraordinariat in Berlin (1915) und dann ein ordentlicher Lehrstuhl in Marburg, den Friedländer 1920 übernahm und zwölf Jahre lang mit großem Erfolg bekleidete. Hierher folgten ihm junge Philologen wie Friedrich Klingner und Georg Rohde, die später selbst auf Lehrstühle gelangten, hier begab sich der junge Hans-Georg Gadamer in seine Lehre, um die eigenen philosophischen Studien nach der philologischen Seite hin abzusichern, und hier entstanden so wegweisende wissenschaftliche Werke wie die mehrteilige Studie über „Die griechische Tragödie und das Tragische“ (1925/26) und die zweibändige Monographie zu Platon (1928/30), die noch Jahrzehnte später in revidierten Auflagen einen nachhaltigen Einfluss ausüben sollte.

Ein ungestörtes Lehren und Forschen in Halle hätte diesem Lebensweg die Krone aufsetzen können; doch es kam anders. Friedländer hatte das erste Semester an seiner neuen Wirkungsstätte noch nicht beendet, als die Nationalsozialisten die Macht übernahmen und bald darauf auch die Universitäten ihrer Rassenpolitik unterwarfen. Dabei hatte das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 noch keine unmittelbaren Auswirkungen auf Friedländer, da ihn seine Beteiligung am Ersten Weltkrieg vor der Entlassung schützte (er war für seinen Einsatz an der West- und an der Ostfront mit dem Eisernen Kreuz 2. Klasse ausgezeichnet worden). Als jedoch am 15. September 1935 das Reichsbürgergesetz in Kraft trat, das alle ‚Nichtarier‘ zu Bürgern minderen Rechtes erklärte, wurde auch Friedländer seines Amtes enthoben; wegen seiner jüdischen Abstammung – er selbst bekannte sich seit seinem fünfzehnten Lebensjahr zum evangelischen Glauben – musste er nach nur sechs Semestern seine Lehrtätigkeit in Halle beenden.

Im Herbst 1936 siedelte Friedländer nach Berlin über, da er dort bessere Voraussetzungen für die Realisierung seiner wissenschaftlichen Arbeitsvorhaben zu finden hoffte. Doch seine Erwartungen wurden nicht erfüllt, ja die politische Lage spitzte sich derart zu, dass Friedländer für sich und seine Familie schon bald keinen anderen Ausweg mehr sah, als Deutschland zu verlassen. Selbst hierfür schien es jedoch bereits zu spät zu sein. Denn noch ehe sich seine Pläne verwirklichen ließen, wurde Friedländer im Zuge der Reichspogromnacht des Jahres 1938 verhaftet und ins KZ Sachsenhausen verschleppt. Glücklicherweise ließ man ihn – nicht zuletzt dank der energischen Rettungsbemühungen seines früheren Marburger Kollegen und engen Freundes, des Neutestamentlers Rudolf Bultmann – nach rund fünf Wochen wieder frei, und im folgenden Jahr hatten seine Ausreisebemühungen tatsächlich Erfolg. Im Sommer 1939 emigrierte Friedländer mit Frau und Tochter in die USA, wo er zunächst an der John Hopkins University in Baltimore unterkam, ein Jahr später an der University of California in Los Angeles eine Anstellung als Lecturer fand und schließlich am selben Ort eine Professur übernahm (1945). Nahe Angehörige Friedländers blieben unterdessen in Deutschland zurück und fielen der Judenverfolgung zum Opfer, darunter seine damals schon weit über achtzigjährige Mutter, die im Sommer 1942 in einem sogenannten ‚Alterstransport‘ nach Theresienstadt deportiert wurde (die Aufklärung ihres Schicksals wird Eckart Mensching verdankt).

Eine dauerhafte Rückkehr nach Deutschland kam für Friedländer nach diesen Erfahrungen nicht mehr ernsthaft in Betracht. Als er im Dezember 1946 das Angebot erhielt, seinen alten Lehrstuhl in Halle wieder einzunehmen, lehnte er ein solches Ansinnen entschieden ab; schon allein der Gedanke, mit dem furchtbaren Schicksal seiner Familienangehörigen unmittelbar konfrontiert zu werden, war ihm unerträglich. Nur einmal – im Jahr 1950 – geriet er für einen kurzen Moment ins Schwanken, als sich seine finanzielle Situation nach der 1949 erfolgten Emeritierung dramatisch verschlechtert hatte und sein Schüler Georg Rohde daher bei ihm anfragte, ob er an die Freie Universität Berlin kommen wolle: „Ich möchte nicht geradezu Ja und nicht geradezu Nein sagen“. Doch die Sache zerschlug sich, und als Friedländer Anfang der fünfziger Jahre endlich in den Genuß deutscher Wiedergutmachungszahlungen gelangte, war über seinen dauerhaften Verbleib in den USA entschieden; deutschen Boden sollte er zeit seines Lebens nicht mehr betreten.

Dennoch fühlte sich Friedländer auch in seinem fast dreißigjährigen amerikanischen Exil eng mit Deutschland verbunden. Als seine Schüler Klingner und Gadamer unter der Versorgungsnot der ersten Nachkriegsjahre zu leiden hatten, war er sich nicht zu schade, sie im Rahmen seiner Möglichkeiten mit Lebensmittelpaketen zu unterstützen. Überhaupt war ihm sehr daran gelegen, den Kontakt mit befreundeten deutschen Kollegen wenigstens auf brieflichem Wege aufrechtzuerhalten, zumal ihm die universitären Verhältnisse in Los Angeles keinen vollwertigen Ersatz für sein früheres akademisches Leben in Deutschland bieten konnten und er nach der Emeritierung zunehmend unter Vereinsamung litt. So beteiligte er sich bei passender Gelegenheit auch an Fest- und Gedenkschriften für deutsche Gelehrte und nahm seinerseits gern akademische Ehrungen aus Deutschland entgegen, ja in einem Fall ergriff er sogar selbst die Initiative, indem er im Januar 1964 bei seinem Schüler Klingner in München anfragte, ob er nicht als korrespondierendes Mitglied in die Bayerische Akademie der Wissenschaften aufgenommen werden könne, was dann im folgenden Jahr geschah.

Auch ein Blick auf Friedländers Publikationen zeigt, wie fest er bis an sein Lebensende in der deutschen Geisteswelt verwurzelt war. Nachdem er sich in den ersten Jahren nach der Emigration auf die englische Sprache verlegt hatte, publizierte er nach seiner Emeritierung nur noch auf deutsch (die englische Übersetzung seines Platon überließ er dem ebenfalls in die USA ausgewanderten Philosophen Hans Meyerhoff), und so hat man auch seine Kleinen Schriften, an denen er bis ins hohe Alter arbeitete, mit Recht „ein deutsches Buch“ genannt (E. Mensching); sie erschienen erst kurz nach Friedländers Tod in einem renommierten deutschen Verlag unter dem Titel „Studien zur antiken Literatur und Kunst“ und enthalten nicht nur persönliche Erinnerungen an seine einstigen Lehrer Hermann Usener, Georg Loeschcke und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, sondern auch eine Studie über „Rhythmen und  Landschaften im zweiten Teil des Faust“, die aus dem Jahr 1953 stammt und keinem Geringeren zugedacht ist als Thomas Mann.

Den unwiederbringlichen Verlust der Heimat musste ein solcher Gelehrter als besonders schmerzhaft empfinden, und tatsächlich hat Friedländer seinen Gefühlen auf bewegende Weise Ausdruck verliehen, indem er sie – ein wohl einmaliger Fall – in griechische Verse kleidete. Es sei erlaubt, dieses wertvolle Kleinod, das zuerst einer 1948 erschienenen Sammlung antiker griechischer Epigramme vorangestellt war und dann in den „Studien zur antiken Literatur und Kunst“ nochmals nachgedruckt wurde, hier zum Abschluss vorzulegen und wenigstens versuchsweise ins Deutsche zu übertragen:

Ἥ μέ ποτ’ ἔθρεψας καὶ ἐγείναο σαῖς ἐν ἀρούραις
ἠδ’ ἱερῶν πολίων σῶν ἐνὶ χαρμοσύναις·
ἥ με τεὴν φωνὴν ἐδιδάξαο καὶ σέο Μούσας
καὶ ἤθεα τῶν προτέρων· ἧς κεν ὑπερθανέειν
Μοίραις εἰ τὸ ἅδοι πέλεν εὔχαρι· νῦν χεόμεσθα
δάκρυα καὶ λοιβὴν πατρίδι τῆι τὸ πάλαι.

Die du mich einst hast aufwachsen lassen in deinen Gefilden
Und der beglückenden Welt deiner urbanen Kultur;
Die du mich einst deine Sprache und Dichtung hast lernen lassen
Und auch der Väter Moral. Hätt’ es das Schicksal gewollt,
Dir hätt’ ich gern mein Leben gegeben. Jetzt aber bleibt nur,
Tränen zu spenden für dich, Heimat vergangener Zeit!


Ausgewählte Publikationen von Paul Friedländer

  • Johannes von Gaza und Paulus Silentiarius. Kunstbeschreibungen justinianischer Zeit. Leipzig; Berlin 1912 (Nachdruck mit Berichtigungen und Zusätzen in: Johannes von Gaza, Paulus Silentiarius und Prokopios von Gaza. Kunstbeschreibungen justinianischer Zeit. Hildesheim 1969).
  • Platon. Bd. 1: Eidos – Paideia – Dialogos. Berlin 1928; Bd. 2: Die platonischen Schriften. Berlin 1930. Zweite und verbesserte Auflage in drei Bänden. Bd. 1: Seinswahrheit und Lebenswirklichkeit. Berlin 1954 (3. Aufl. 1964); Bd. 2: Die platonischen Schriften. Erste Periode. Berlin 1957 (3. Aufl. 1964); Bd. 3: Die platonischen Schriften. Zweite und dritte Periode. Berlin 1960 (3. Aufl. 1975); englische Übersetzung: Plato, transl. from the German by Hans Meyerhoff. Bd. 1: An Introduction. Princeton 1958 (2. Aufl. 1969); Bd. 2: The Dialogues. First Period. Princeton 1964 (2. Aufl. 1977); Bd. 3: The Dialogues. Second and Third Periods. Princeton 1969.
  • Spätantiker Gemäldezyklus in Gaza. Des Prokopios von Gaza Ekphrasis eikonos, Città del Vaticano 1939 (Nachdruck mit Berichtigungen und Zusätzen in: Johannes von Gaza, Paulus Silentiarius und Prokopios von Gaza. Kunstbeschreibungen justinianischer Zeit, Hildesheim 1969).
  • Studien zur antiken Literatur und Kunst. Berlin 1969 (mit Schriftenverzeichnis).

Quellen und Literatur

  • Winfried Bühler: Paul Friedländer †. In: Gnomon 41 (1969), 619–623 (Nachruf).
  • Bernhard Kytzler: Deutscher Gelehrter und Jude. Paul Friedländers Studien zur antiken Literatur. In: Literaturblatt der FAZ vom 2.1.1971.
  • Rudolf Bultmann: Paul Friedländer (1882–1968) / Professor der Klassischen Philologie. In: Ingeborg Schnack (Hg.): Marburger Gelehrte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Marburg 1977, 91f. (ebd. 93–95: Abdruck des Nachrufs der University of California, Los Angeles).
  • Hans-Georg Gadamer: Paul Friedländer (1882–1968). In: Miscellanea di studi in onore di Ernst Vogt (Eikasmos 4/1993), 179–181 (Nachdruck in: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 10, Tübingen 1995, 403–405).
  • William M. Calder III und Bernhard Huß (Hgg.): ,The Wilamowitz in me’. 100 Letters between Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff and Paul Friedländer (1904–1931). Los Angeles 1999, IX–XXII.
  • Renate Heuer (Hg.): Lexikon deutsch-jüdischer Autoren. Bd. 8, München 2000, 144–148.
  • Eckart Mensching: Professor Paul Friedländer (1882–1968). Von Halle über Berlin nach Los Angeles. In: ders.: Nugae zur Philologie-Geschichte XIII. Berlin 2003, 82–92.
  • Konrad Hammann: Rudolf Bultmann. Eine Biographie. 2. Aufl. Tübingen 2009, 286–289.
  • Hans-Ulrich Berner und Mayya Pait: Friedländer, Paul. In: Peter Kuhlmann und Helmuth Schneider (Hgg.): Geschichte der Altertumswissenschaften. Biographisches Lexikon (Der Neue Pauly Suppl. 6), Stuttgart; Weimar 2012, 427f.
  • Hans Peter Obermayer: Deutsche Altertumswissenschaftler im amerikanischen Exil. Eine Rekonstruktion. Berlin 2014, 595-672.

Bild aus: Gnomon 41 (1969), zwischen 620 und 621. Für die Publikationserlaubnis sei Ria Bühler (München) herzlich gedankt.

Dokument: UAH PA 6289. Die Erstpublikation besorgte Eckart Mensching: Ein Brief von Paul Friedländer (1946). In: ders.: Nugae zur Philologie-Geschichte XI. Berlin 2001, 99–104.

Quelle: Friedemann Stengel (Hg.): Ausgeschlossen. Die 1933-1945 entlassenen Hochschullehrer der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Halle 2016, S. 101 - 109

Autor: Michael Hillgruber

Weitere Bilder und Dokumente:

Dokument: Friedländer, Paul

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