Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Gelb, Adhémar

Gelb, Adhémar

geboren:18.11.1887 Moskau
gestorben:7.8.1936 Schömberg (Baden)
Konfession:evangelisch
Vater:Versicherungskaufmann

Gelb, Adhémar

Psychologe

Adhémar Gelb wird am 18. November 1887 als Sohn des ungarischen Versicherungskaufmanns Maximilian Gelb und seiner Frau Wilhelmine (geb. Stahl) in Moskau geboren. Dort besucht er das deutsche humanistische St. Petri-Paul Gymnasium, das er im Sommer 1906 mit dem Abitur abschließt. Er studiert Philosophie und Psychologie in München und Berlin und promoviert 1910 in Berlin mit der Arbeit „Theoretisches über Gestaltqualitäten“ bei dem bedeutenden Psychologen Carl Stumpf. Von Sommer 1909 bis Frühjahr 1912 ist er Volontärassistent am Psychologischen Institut in Berlin. Im Jahr 1912 wird er Assistent am Psychologischen Institut der Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften in Frankfurt/Main. Während des Weltkrieges, seit 1915, arbeitet er zusammen mit dem Neurologen Kurt Goldstein (1878–1965) in einem Frankfurter Speziallazarett für Hirnverletzte. Im Jahr 1919 reicht er seine Habilitationsarbeit „Über den Wegfall der Wahrnehmung von ‚Oberflächenfarben‘. Beiträge zur Farbenpsychologie auf Grund von Untersuchungen an Fällen mit erworbenen, durch cerebrale Laesionen bedingten Farbensinnstörungen“ ein. Seine Probevorlesung widmet sich der „Psychologie der Raumwahrnehmung des Tastsinnes“, seine Antrittsvorlesung hat „Ersatzbildungen bei verlorenen oder beeinträchtigten psychischen Leistungen“ zum Thema. 1923 erhält er den Preis der Berliner Akademie der Wissenschaft, 1924 wird er zum nicht beamteten außerordentlichen Professor ernannt. Bis 1928 ist Gelb planmäßiger Assistent in Frankfurt, vom 1. April 1928 bis 31. September 1931 Direktor des Frankfurter Psychologischen Instituts. Adhémar Gelb wird Herausgeber von bedeutsamen psychologischen Fachzeitschriften. Am 1. Oktober 1931 übernimmt er die Leitung des Psychologischen Seminars der Vereinigten Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg mit einem Lehrauftrag für Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Psychologie als Nachfolger Theodor Ziehens. Folgende Überlegungen sind für die Berufung ausschlaggebend: „Seine Schriften bekunden eine ausgezeichnete psychologische Schulung, die ergänzt wird durch gediegene Kennerschaft auf dem Gebiet der Neurologie und Psychiatrie. Hierzu tritt noch eine lebendige Fühlungnahme mit der philosophischen Problematik.“ Seine Vorlesungen in Frankfurt und Halle sind stets gut besucht, nicht nur von interessierten Studierenden, sondern auch von Kollegen. Noch im Sommersemester 1933 ist seine Vorlesung „Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Psychologie“ mit experimentell-psychologischen Demonstrationen überfüllt. Obgleich evangelischer Konfession wird er zum 7. September 1933 auf Grund seiner jüdischen Herkunft entlassen (sein Vater war Jude). Er erhält nur eine bescheidene Pension, die die Familie in eine wirtschaftliche Not treibt. Einen Ruf an die Universität Stockholm kann Gelb 1934 wegen einer Tuberkuloseerkrankung nicht wahrnehmen. Adhémar Gelb, wie auch seine Frau Nelly, die Tochter des bekannten Opernsängers Max Alvary-Achenbach, suchen um finanzielle Unterstützung durch die Universität Halle nach. Im Jahr 1935 hält er noch Gastvorträge an der schwedischen Universität Lund, die posthum veröffentlicht werden. Aufgrund seiner Lungenerkrankung sucht Gelb ein Sanatorium in Schömberg/Schwarzwald auf; der Aufenthalt wird von Freunden finanziert. Dort leidet er unter den Angriffen der nazistischen Mitpatienten. Er muss in ein Nachbardorf ziehen, wo er wenig später am 7. August 1936 verstirbt. Bald darauf begeht sein Sohn Max Gregor, der Medizin in Köln studierte, Suizid. In einem versteckten Nachruf auf Adhémar Gelb aus dem Jahr 1937 heißt es: „Nur ein vornehm gebildeter Mensch und ein Philosoph konnte in der Art Psychologe sein, wie es Gelb war.“

Adhémar Gelb gehört zu den Pionieren der Neuropsychologie, da er als erster Psychologe – zusammen mit dem Neurologen Kurt Goldstein – grundlegende Probleme der Wahrnehmungsstörungen bei hirnverletzten Soldaten experimentell-psychologisch untersuchte. So konnte er als Vertreter der Gestaltpsychologie grundlegende Probleme der Wahrnehmungs- und Sprachpsychologie an neuropathologischen Fallbeispielen (pathologische Raumwahrnehmung, Farbsinnstörung, Agnosie und Aphasie) verdeutlichen und allgemein psychologische Gesetzmäßigkeiten ableiten (z.B. Figur-Grund-Differenzierung, τ-Phänomen zur Beziehung zwischen Raumwahrnehmung und erlebter Zeit). In der Denkpsychologie zeigt er pathologische kognitive Prozesse auf (Patienten mit bestimmten neurologischen Störungen können wohl einfach-konkret Objekte beschreiben, nicht jedoch rational-abstrakt). Die Verbindung von Neuropsychologie und Philosophie ermöglichte ihm eine neue Sichtweise auf das menschliche Verhalten und Erleben. In seinem Spätwerk (1937/1969) formuliert er eine philosophische Anthropologie. Sie verdeutlicht beispielhaft, dass nicht der Verlust der Vorstellungen die Ursache einer Seelenblindheit ist, vielmehr die bereits in der Wahrnehmung nachweisbare Störung der Gestalterfassung für den Verlust der Vorstellungen und des Erkennens der Dinge verantwortlich sei. Hierbei war es ihm ein Anliegen, das Verhalten ganzheitlich zu begreifen, da ein klar umschriebener Leistungsausfall immer eine Veränderung auf das Gesamterleben zur Folge hat. Im Verständnis der pathologischen Abweichungen wie der normalen Organisation höherer geistiger Prozesse gelingt ihm eine Überwindung des Dualismus zwischen Empfindung und Wahrnehmung. Diese Überlegungen geben seinem Werk höchste Aktualität.


Ausgewählte Publikationen von Adhémar Gelb

  • Theoretisches über ‚Gestaltqualitäten‘. In: Zeitschrift für Psychologie 58 (1910), 1–58 (Dissertation Berlin 1910). 
  • Über den Wegfall der Wahrnehmungen von Oberflächenfarben. In: Zeitschrift für Psychologie 84 (1920), 193–257 (Habilitationsschrift Frankfurt a.M. 1919). 
  • Psychologische Analysen hirnpathologischer Fälle. Leipzig 1920 (zusammen mit Kurt Goldstein und Wilhelm Fuchs).
  • Die Erscheinungen des simultanen Kontrastes und der Eindruck der Feldbeleuchtung. In: Zeitschrift für Psychologie 127 (1932), 42–59.
  • Zur medizinischen Psychologie und philosophischen Anthropologie. In: Acta Psychologica 3 (1937), Heft 2, 193–271 (Neudruck Darmstadt 1969).

Quellen und Literatur

  • UAH PA 6557.
  • Rudolf Bergius: Zum 75. Geburtstag von Adhémar Gelb. In: Psychologische Beiträge 7 (1954), 360–369.
  • Nachruf auf E.M. von Hornbostel und A. Gelb. In: Psychologische Forschung 21 (1937), 113.

Bild: UAH.


Dokument

Abschrift: Eingang 7. August 1935 Nr. 4148
6. August z. Zt. Schömberg/Schwarzwald

Am 7. September 1933 wurde ich, als nicht Vollarier, auf Grund von § 3 des Berufsbeamtengesetzes in den Ruhestand versetzt. (U.I.Br. 13116).

Diese aussergewöhnliche Notlage, die darauf für mich und meine Angehörigen entstand, legte ich in einer Eingabe am 3. Dezember 1933 dar. Daraufhin hat der Herr Minister für  Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung mir vom 4. Januar 1934 ab aufgrund des § 16 B.B.O. in Gemeinschaft mit dem Herrn Finanzminister für 2 Jahre, also bis Ende Dezember 1935, Gnadenbezüge (Als Härteausgleich) von jährlich 5531,85 RM bewilligt.

Ich habe seit meiner Versetzung in den Ruhestand nichts unterlassen, um mir einen geeigneten Wirkungskreis zu verschaffen. Und in der Tat boten sich mir, besonders auch Dank den Bemühungen meiner Fachkollegen und meiner zahlreichen Schüler im Auslande, verschiedene positive Aussichten. Allein ich hätte diese nicht ausnutzen können, da vor einem Jahr bei mir Lungentuberkulose festgestellt wurde.

August 1934 bis einschl. Januar 1935 musste ich teils im Krankenhaus, teils im Sanatorium (bei Dr. G. Schröder, Neue Heilanstalt, Schömberg) verbringen. Die damit verbundenen außerordentlichen Unkosten konnte ich nicht im entferntesten aufbringen: Sie wurden zum allergrößten Teil von befreundeten Kollegen in Frankfurt und in Halle getragen.

Um aus dieser seelisch bedrückenden Lage so schnell wie möglich heraus zu kommen, folgte ich im Februar 1935 einer Einladung der KGL. Schwedischen Universität Lund, da selbst eine Reihe von Gastvorlesungen zu halten. Abgesehen von dem großen Erfolg boten sich mir in Schweden positive Aussichten für eine Stellung.

Da bekam ich Ende Mai einen schweren Rückfall; seit dem 11. Juli bin ich wieder in Schömberg in Behandlung. Bei meinem jetzigen Zustande dürfte ich in absehbarer Zeit nicht in der Lage sein, irgend eine Tätigkeit auszuüben. (Beiliegend Zeugnis des bereits erwähnten, behandelnden Arztes: Dr. G. Schröder).

Sollten nun die oben genannten Gnadenbezüge nach Ablauf der Bewilligungsdauer, d.h. Ende Dezember dieses Jahres, wirklich aufhören, so wird meine und meiner Angehörigen Lage untragbar werden:

1) Meine kränkliche Frau, meine 79 jährige Mutter – beide rein germanisch-arischer Abstammung – und mein Sohn sind wirtschaftlich auf mich allein angewiesen.

2) Durch die Krankheit ist meine Lage innerlich und äußerlich noch viel schwerer und verwickelter geworden: Innerlich dadurch, dass ich wegen meiner kostspieligen Krankheit dauernd auf Unterstützung von Freunden angewiesen bin; äußerlich aber dadurch, dass die Aussichten auf Stellen, die für mich in Betracht kamen und weiter erwogen werden, allmählich zunichte werden können, z.B. musste ich unmittelbar nach dem erlittenen Rückfall ein Angebot der Kansasuniversity (U.S.A.) ausschlagen. Auf diese Weise fürchte ich, in Zukunft für diese und für andere erwogene Stellungen nicht mehr in Frage zu kommen.

Unter Würdigung all der genannten Umstände sehe ich mich leider genötigt, den Herrn Minister zu bitten, mir die oben genannten Gnadenbezüge mindestens noch 2 Jahre weiter, d.h. bis Ende Dezember 1937, gütigst gewähren zu wollen. Selbstverständlich verpflichte ich mich, nichts unversucht zu lassen, um so bald wie möglich eine Existenzmöglichkeit zu finden und damit von den Gnadenbezügen unabhängig zu werden.

gez. Prof. Gelb,
o. Professor i. R. an der Univ. Halle


Quelle: Friedemann Stengel (Hg.): Ausgeschlossen. Die 1933-1945 entlassenen Hochschullehrer der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Halle 2016, S. 117 - 124

Autor: Uwe Wolfradt

Weitere Bilder und Dokumente:

Dokument: Gelb, Adhémar

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