Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Grünfeld, Ernst

Grünfeld, Ernst

geboren:11.9.1883 Brünn
gestorben:10.5.1938 Berlin
Konfession:evangelisch, früher römisch-katholisch
Vater:Großindustrieller

Grünfeld, Ernst

Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler

Der Nationalökonom Ernst Grünfeld hat in einem 1939 posthum erschienenen Buch den Begriff des „Peripheren“ geprägt. Obgleich er den theoretischen Rahmen sachlich entfaltet, ist nicht zu übersehen, dass in dieser Themenwahl wie auch in konkreten Äußerungen eine persönliche Konnotation mitschwingt, wenn er wiederholt von der die Peripheren umgebenden „Wolke von Mißverständnis und Geheimnis“ (74) spricht. Das von ihm beschriebene Erlebnis des Ausgesondert-Werdens liest sich wie eine autobiographische Notiz (79).

„Wer solche Erlebnisse hinter sich hat, ist […] natürlich ein anderer Mensch geworden. Den einen erhebt so ein Erlebnis, den anderen drückt es nieder. Aber das Merkmal des aussondernden Erlebnisses wird sobald nicht aus der Seele des Peripheren getilgt werden können.“

Wie wurde aus Ernst Grünfeld ein Peripherer?

Ernst Grünfeld wurde am 11. September 1883 als Sohn des Fabrikanten, Abgeordneten zum mährischen Landtag und türkischen Konsuls Arnold Abraham Grünfeld (1848–1919) und dessen Ehefrau Annie geb. Haas (1859–1936) in Brünn (damals Mähren) geboren. Sein älterer Bruder, der unter dem Pseudonym schreibende Musikhistoriker und Musikkritiker Paul Stefan (1879–1943), emigrierte 1941 in die USA.

Die ersten vier Jahre seiner Schulbildung absolvierte Ernst Grünfeld an der städtischen Volksschule, um folgend 1901 am kaiserlichen und königlichen Deutschen Staats-Obergymnasium das Abitur abzulegen. Dem Dienst als Einjährig-Freiwilliger schloss sich ein einjähriges Volontariat auf einem Gut bei Troppau in Österreich-Schlesien in der praktischen Landwirtschaft an. Grünfeld studierte ein Semester in Wien an der Hochschule für Bodenkultur und dann sieben Semester Volkswirtschaft und Staatswissenschaften an der Universität in Halle, wo er das Studium noch einmal unterbrach, um vom Frühjahr bis Herbst 1905 auf dem Rittergut Kurzig in Posen wiederum die Landwirtschaft praktisch zu erlernen. In Halle bestand er 1906 das landwirtschaftliche Diplomexamen, im Februar 1908 das philosophische Doktorexamen. Die Dissertation mit dem Titel „Die Gesellschaftslehre von Lorenz von Stein“ wurde von Heinrich Waentig betreut, der auch auf dem späteren Karriereweg als Unterstützer auftrat. Nach der Promotion studierte Grünfeld noch an den Universitäten Leipzig und Wien Volkwirtschaftslehre
und verwandte Gebiete und nahm dann von 1910 bis 1912 eine Stelle als Assistent des Ostasiatischen Wirtschaftsarchivs der Südmandschurischen Bahn AG in Tokio an. Diese Zeit nutzte er für ausgedehnte Reisen durch Ostasien, um Material für die im August 1913 beendete Habilitationsschrift über „Die Hafenkolonien in China“ zu sammeln.

1914 wurde er als Reserveoffizier des österreichischen Landsturms einberufen, dabei hoch dekoriert, unter anderem mit dem Franz-Joseph-Orden, zum Rittmeister befördert und kämpfte zwei Jahre an der montenegrinischen Front. Die folgenden zwei Jahre bis Kriegsende war Ernst Grünfeld im österreichischen Kriegsministerium in Wien als Adjutant des Chefs des Wissenschaftlichen Komitees für Kriegswirtschaft beschäftigt. 1918 heiratete er die Schauspielerin Valerie Nowotny.

Einen Ruf als beauftragter Dozent für die Wirtschaftskunde Ostasiens und wissenschaftlicher Dezernent an das von Bernhard Harms geleitete Institut für Weltwirtschaft in Kiel lehnte Grünfeld 1919 ab, übernahm aber das Referat Ein- und Ausfuhr als Mitarbeiter bei der wissenschaftlichen Gruppe des Reichsministeriums des Innern in Berlin. Seitens des Wissenschaftsministeriums in Berlin wurde im November 1919 an den Dekan der Staatswissenschaftlichen Fakultät die Anfrage gerichtet, ob Bedenken bestünden, den bisher von Gustav Aubin vertretenen Lehrauftrag für Staatsbürgerkunde und sozialpolitische Gesetzgebung Ernst Grünfeld zu erteilen. Der Dekan der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät monierte, Grünfeld würden entsprechende juristische Kenntnisse fehlen; man wolle ihn jedoch mit einem Lehrauftrag für Genossenschaftswesen betraut wissen. Im Mai 1920 wurde Grünfeld dieser Lehrauftrag übertragen. Am 16. Februar 1922 wurde er zum nichtbeamteten außerordentlichen Professor und im Mai 1923 zum Direktor des Seminars für Genossenschaftswesen ernannt. Einem Antrag auf Einbürgerung für sich und seine Ehefrau vom Mai 1923 wurde im August 1925 stattgegeben, womit auch ein Konfessionswechsel vom katholischen zum evangelischen Glauben verbunden war. Aus einer Aktennotiz in der Personalakte vom 19. September 1925 geht hervor, Ministerialdirektor Richter habe bei einer Besprechung dem hallischen Kurator Sommer vertraulich mitgeteilt, dass auf Betreiben von Geheimrat Waentig eine Professur für Grünfeld angeregt worden sei. Der Professor für Volkswirtschaftslehre Waentig, Mitglied des preußischen Landtags und 1930 auch preußischer Innenminister, gehörte neben Friedrich Otto Hertz zu den wenigen hallischen Professoren,
die Mitglied der SPD waren.

An der Universität Halle hatte Grünfeld seit dem Sommersemester 1929 das erste deutsche Ordinariat für Genossenschaftswesen inne. Das hohe Ansehen als Hochschullehrer und das Vertrauen der Fakultät spiegelt auch die Wahl zum Dekan und die Ausübung der Amtsgeschäfte vom 12. Juli 1932 bis April 1933 wider. Auch in der städtischen Politik engagierte sich der Universitätsprofessor. So findet sich ein Eintrag zur Stadtverordnetenwahl am 17. November 1929, der ihn als Nachfolger der Bürgerlichen Arbeitsgemeinschaft ausweist; seit dem 4. September 1931 übernahm er das Amt für den verstorbenen Bankier Walter Schwarz. Im Wahlprotokoll zur Stadtverordnetenversammlung vom 12. März 1933 wurde sein Name nicht mehr geführt. Noch in „Die Peripheren“ (57) äußert sich Grünfeld so zur „Judenfrage“:

„Man kann nicht gut Leute als fremd bezeichnen, die viele Generationen im selben Lande leben, dieselbe Sprache sprechen, dieselbe Kultur teilen, sich dem Lande zugehörig fühlen und in ihm aufgehen wollen.“

Für ihn aber begann genau hier die Zäsur seines Lebens, die den Karriereweg und die soziale Eingebundenheit beendete. So war der Hochschullehrer seinen Widersachern seit längerem aufgefallen. Politisch – damit wich er deutlich von der vornehmlich deutschnational eingestellten Professorenschaft ab – engagierte er sich in der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei und wechselte nach deren Selbstauflösung im November 1930 zu der vier Monate zuvor gegründeten Deutschen Staatspartei. Ernst Grünfeld geriet gleich 1933 in den Fokus nationalsozialistischer Studenten in Halle: Die Denunziation durch den Studentenführer der Nationalsozialistischen Deutschen Studentenschaft, Heinz Schimmerohn, die zusammen mit der Denunziation Theodor Brugschs und Rudolf Joerges’ über die Berliner Studentenschaft an das Ministerium weitergeleitet wurde, lautete: „Jude, Marxist, der Fakultät oktroyiert. Kein Verständnis für Deutschtum. Setzte nationale Belange stets herab. Im Fall Dehn auf Seiten von diesem.“ So hieß es im Originalschreiben der Deutschen Studentenschaft zu Berlin am 29. Mai 1933, das auch eine Abschrift der Liste der zu boykottierenden Professoren der Universität in Halle enthält. Obgleich Kriegsteilnehmern und Vorkriegsbeamten noch eine „Schonfrist“ bis 1935 eingeräumt wurde, beurlaubte man Grünfeld zunächst durch  Ministerialerlass vom 15. Mai 1933 von seinem Amt und jedweder Tätigkeit. Immerhin wurde seitens des Ministeriums im August 1933 dahingehend gedrängt, er solle bei der Einreichung des Fragebogens zur „Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ urkundlich und detailliert seine Kriegsdienstzeit nachweisen. Dieser Aufforderung kam der Hochschullehrer in einer akribischen Anlage nach. Auch der Vermerk zur Konfession der Eltern: „katholisch (früher israelitisch)“ bzw. der Großeltern: „israelitisch“ spiegelt ganz klar sein Selbstverständnis wider.

Im September 1933 wurde Grünfeld aufgrund des § 4 des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ aus dem Staatsdienst entlassen. Dieser Paragraph richtete sich gegen Beamte, die wegen ihrer politischen Betätigung, „nicht mehr die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten.“ Grünfeld wehrte sich und bat hinsichtlich der Festsetzung seiner Versorgungsbezüge in einem Brief an das Ministerium am 3. November zu berücksichtigen, „dass ich auch im österreichischen Heere für Deutschland als Verbündeter der deutschen Heere gekämpft habe.“ Ein eindrückliches Zeugnis eben auch der finanziellen Degradierung gibt nur einen Monat später eine weitere Eingabe auf die Verweigerung seines Ruhegehaltes hin. Nüchtern beschrieb er seine Lage:

„Es ist für mich als Nichtarier, obwohl Frontkämpfer und Rittmeister der Landwehr, in Deutschland völlig unmöglich, eine Stelle zu finden. Das soll nicht hindern, dass ich mich auch weiter um eine solche umsehe. Ich wäre gerne bereit gewesen, etwa im Dienstbereich des Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, eine andere Stelle anzunehmen; aber solange ich eine solche nicht finde, bin ich nicht in der Lage, mir in Deutschland mein Brot zu verdienen. (Schriftstellerische Tätigkeit kann ich bekanntlich in Deutschland nicht mehr entfalten, da keine Zeitung oder Zeitschrift Beiträge von Nichtariern aufnimmt.) Ich habe mich natürlich bei auswärtigen Hochschulen erkundigt, doch hatte ich bisher keinen Erfolg.“

Die im April 1933 gegründete Notgemeinschaft Deutscher Wissenschaftler im Ausland, deren Aufgabenfeld die Vermittlung der aus ihren Posten vertriebener Gelehrter war, veröffentlichte 1936 eine erste Liste von 1500 Wissenschaftlern. Unter den Arbeitssuchenden findet sich auf Seite 29 auch Ernst Grünfeld. Am 2. Februar 1934 begehrte er nochmals auf und wollte den Grund seiner Entlassung erfahren, da die Zugehörigkeit zu einer Partei noch nicht die Annahme der nationalen Unzuverlässigkeit rechtfertige. Eine Versetzung aus Gründen des Staatsinteresses an eine „noch so kleine technische Hochschule“ oder gar in den Bibliotheksdienst hätte er hingenommen.

„Aber ich kann mir nicht denken, dass die Entlassung eines Hochschullehrers und Gelehrten, der, bei aller Bescheidenheit, auf Leistungen von Rang hinweisen darf, verfügt werden kann, ohne dass man ihm, schon in seiner Eigenschaft als Kriegsteilnehmer, Gelegenheit gibt, sich gegen die ihn bedrohenden Anschuldigungen zu verteidigen.“

Offensichtlich resigniert über die neuen Machtverhältnisse suchte Grünfeld nur einen Monat später um einen Härteausgleich anstelle der Pension nach.

Laut Verfügung des Regierungspräsidenten zu Merseburg vom 9. März 1934 wurde die Einbürgerung des Ehepaars Grünfeld widerrufen. Am 24. März 1934 antwortete der Kurator der Universität, Friedrich Tromp, auf die Anfrage des Polizeipräsidenten zur politischen Einstellung lapidar:

„Der Prof. Dr. Grünfeld war hier an der Universität tätig und lehrte Volkswirtschaft. Prof. Grünfeld war Mitglied des Demokratischen Klubs von 1925 und gehörte der Staatspartei von 1925 bis zum Umsturz als Schriftführer an. Er stand in enger Verbindung mit dem Universitätsprofessor Dr. Hertz, der der S.P.D. angehörte und im März 1933 nach Wien flüchtete. Die Ehefrau des Dr. Grünfeld hatte hier ebenfalls eine führende Stellung in der Staatspartei inne. […] Ausbürgerung wird empfohlen!“

Die Entscheidung vom September 1933 wurde laut Ministerialerlass vom 29. März 1934 so abgeändert, dass Grünfeld nunmehr nicht aufgrund § 4 aus dem Staatsdienst entlassen, sondern ab 1. Juli 1934 laut § 6 des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ in den Ruhestand versetzt wurde. Immerhin war dies mit der Zahlung eines Ruhegehaltes verbunden. Der § 6 dieses Gesetzes war ein Paragraph der Willkür. Nach diesem konnte ein Beamter „zur Vereinfachung der Verwaltung“ in den Ruhestand versetzt werden, wobei vorgesehen war, die Stelle nicht wiederzubesetzen. Zu einer geregelten Vertretung des Genossenschaftswesens kam es nach 1933 an der Universität Halle nicht mehr; anstelle des erledigten Lehrstuhls sollte Halle eine planmäßige außerordentliche Professur für Betriebswirtschaftslehre besetzen dürfen.

Aufgezwungene soziale Peripherie, finanziell an den äußersten Rand gedrängt – diese Erfahrungen amalgamierten im Frühjahr 1938 mit einer weiteren Stigmatisierung, die in den privat-familiären Bereich eingriff. Das kinderlose Ehepaar Grünfeld hatte im Juni 1931 ein einjähriges Mädchen namens Irene adoptiert – im Mai 1938 wurde ihnen das Sorgerecht für die „arische“ Tochter entzogen.

Am 10. Mai 1938 zeigte die Ehefrau seinen Tod an; Ernst Grünfeld beging in Berlin Suizid.

In seiner weitgefächerten wissenschaftlichen Arbeit beschäftigte sich Ernst Grünfeld mit handels- und kolonialpolitischen sowie agrar- und sozialpolitischen Themen mit exponiertem Fokus auf das Gebiet der Soziologie und des Genossenschaftswesens. Von ihm kamen die ersten Impulse einer deutschen Stein-Forschung mit der Publikation „Lorenz von Stein und die Gesellschaftslehre“ (1910). So suchte er den Nachweis zu erbringen, auch die Soziologie könne ebenso wie andere Wissenschaften auf eine in die Antike zurückreichende Geschichte verweisen und beschritt damit neue Wege der Sozialgeschichtsschreibung.

Eine vielfältige Publikationstätigkeit – er gab mit Julius von Gierke und Karl Hildebrand das vierbändige „Handbuch des Genossenschaftswesens“ heraus – und die redaktionelle Betreuung der von ihm 1923 gegründeten „Genossenschafts-Korrespondenz“ (seit 1929 Vierteljahresschrift für Genossenschaftswesen) – förderten Grünfelds Ruf als wissenschaftliche Autorität. Pionierarbeit leistete Grünfeld, indem er neben nationalökonomischen und historischen Aspekten auch die soziologische Betrachtung aufgriff. Hier kreisen seine Überlegungen unter anderem um die Prämissen der sozialpolitischen Selbsthilfe und um die soziale Gruppenbildung und Genossenschaftsführer in ihrem Verhältnis zur Masse. Diese Beiträge zur Entwicklung der Genossenschaften und zu ihrer sozialen Korrektivfunktion waren wissenschaftlich bahnbrechend für den reformpolitischen Diskurs.

Das Fundament für eine Theorie der Migration wurde gelegt, als Georg Simmel in seiner „Soziologie“ 1908 die Figur des Fremden einführte: Er sei „der Wandernde […], der heute kommt und morgen bleibt – sozusagen der potenziell Wandernde, der, obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat“ (764). In den wissenschaftlichen Kreis derer, die sich mit einer Theorie der Migration beschäftigt haben, ist auch Ernst Grünfeld einzuordnen. Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatte sich Grünfeld 1913 im Kontext seiner Beschäftigung mit der japanischen Arbeitsmigration bereits eingehend den Problemen der sozialen Randständigkeit zugewandt. In seinem Werk „Die Peripheren. Ein Kapitel Soziologie“ unterscheidet er zwei Gruppen: die Fremden und die (nichtfremden) ausgesonderten Peripheren. Periphere sind bei ihm Menschen, die im Gefüge ihrer sozialen Gruppe einen Rand- oder Außenseiterstatus haben, häufig Fremde, aber eben nicht zwangsläufig. Auch andere Gründe können zu deren Aussonderung führen.

„Periphere nenne ich alle diejenigen, die in Bezug auf irgend ein soziales Gebilde peripher sind, so daß ihre Zugehörigkeit zu den übrigen Gebildegliedern und dem  Gebilde selbst gelockert oder aufgehoben ist. Wenn nur eine oder wenige Bindungen gelöst sind, bezeichne ich sie als Randseiter, wenn eine stärkere Lösung erfolgt ist, als Aussenseiter.“

Der Periphere ist demnach nicht durch seinen Ort, sondern durch seinen Zustand definiert, Peripherie ein Status, der jeder Person jederzeit widerfahren kann, überall. In der soziologischen Literatur war fast nur von den Fremden die Rede; von Ausgesonderten nur gelegentlich, und auch dann nur, ohne auf die Zusammengehörigkeit dieser Gruppen zu achten. „Das Entscheidende ist das Verhältnis der Distanz und der Prozeß der Distanzierung und Auflockerung des Gebildes, von dem oder zu dem eine neue Distanz gewonnen wurde.“ Grünfeld entwickelte jedoch die Simmelsche Denkfigur weiter: „Aber sehr vieles, was für den Fremden gilt, gilt für den Peripheren überhaupt: nicht daß einer fremd ist, sondern daß er soziologisch peripher ist, ist das worauf es ankommt!“ (32).

Dieses Werk, das in Deutschland in der inneren Emigration geschrieben ist, wurde von seiner Ehefrau nach Ernst Grünfelds Tod in die Niederlande geschmuggelt. Im Vorwort schrieb sie:

„Mein Mann gehörte zu den Ersten, die das Geheimnis zu lüften suchten, das all die Menschen umgibt, die durch Geburt, Schicksal oder Schuld an die Peripherie ihres Lebenskreises gestellt werden.“

In der Zusammenschau kann festgehalten werden, dass die Marginalisierung auch auf wissenschaftlichem Gebiet erfolgreich verlaufen ist: Auch die aktuelle Forschung verfolgt die theoretischen Implikationen der Grünfeldschen Forschungsansätze nicht weiter. Den Peripheren Grünfeld umgibt bis heute eine „Wolke von Mißverständnis und Geheimnis“. Und diese Isolierung „gilt nicht nur für die Einstellung des neuen Umkreises zum Peripheren“, sondern auch „für die des alten Umkreises des Peripheren, vom Drinnen zum Draussen und umgekehrt,“, so Grünfeld in „Die Peripheren“ (74).


Ausgewählte Publikationen von Ernst Grünfeld

  • Lorenz von Stein und die Gesellschaftslehre. Jena 1910 (Dissertation Halle 1908).
  • Hafenkolonien und kolonieähnliche Verhältnisse in China, Japan und Korea. Eine kolonialpolitische Studie. Jena 1913 (Habiliationsschrift Halle 1913).
  • Die japanische Auswanderung. Tokyo; Berlin 1913.
  • Anleitung zum selbständigen Arbeiten für Volkswirte. Jena 1922 (3. Aufl. 1927).
  • Handbuch des Genossenschaftswesens, hg. in Gemeinschaft mit Julius von Gierke und Karl Hildebrand von Ernst Grünfeld. 4 Bde., Halberstadt 1927f.
  • Die Peripheren. Ein Kapitel Soziologie. Amsterdam 1939 (posthum), Neudruck mit einem Nachwort von Reinhold Sackmann. Halle 2015 = Schriften 1933-1945 vertriebener Wissenschaftler der Universität Halle-Wittenberg, hrsg. von Friedemann Stengel; Bd. 2).

Quellen und Literatur

  • GStA PK Rep. 76 Va Sekt. 8 Tit. IV, Nr. 52, Bl. 118–122.
  • StAH SM Abt. I, Nr. 24.
  • UAH PA Nr. 6968; Rep. 4 Nr. 2090.
  • Sven Papcke: Der Soziologe als Außenseiter/Der Außenseiter als Soziologe. In: Jahrbuch für Soziologiegeschichte 3 (1994), 171–189.
  • Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Frankfurt a.M. 1992 (Gesamtausgabe, Bd. 11).
  • Herbert A. Strauss et al. (Hg.): Emigration. Deutsche Wissenschaftler nach 1933. Entlassung und Vertreibung. Berlin 1987 (In Teil I: List of Displaced German Scholars. London 1936).

Bild: UAH.

Dokumente aus dem GStA, wie oben.

Quelle: Friedemann Stengel (Hg.): Ausgeschlossen. Die 1933-1945 entlassenen Hochschullehrer der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Halle 2016, S. 133 - 147

Autorin: Yvonne Drost

Weitere Bilder und Dokumente:

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