Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Hertz, Friedrich Otto

Hertz, Friedrich Otto

geboren:26.3.1878 Wien
gestorben:20.11.1964 London
Konfession:katholisch
Vater:Kaufmann

Hertz, Friedrich Otto

Soziologe, Nationalökonom, Historiker

Friedrich O(tto) Hertz wurde in einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Wien geboren. Nach dem Abitur 1897 am Franz-Josephs-Gymnasium Studium der Rechts- und  Wirtschaftswissenschaften in Wien und München. Dort promovierte er 1903 über ein finanzwissenschaftliches Thema. In den Folgejahren arbeitete er als Publizist und Journalist, unter anderem auch unter den programmatisch gewählten Pseudonymen Austrian Liberal, Erasmus Herder und Germanus Liber, sowie als Berater, Experte und schließlich Geschäftsführer verschiedener Wirtschaftsverbände; u.a. 1906–1913 als Sekretär für den „Hauptverband der Industrie Österreichs“ und 1913/14 als Manager einer Schweizer Versicherungsgesellschaft. Er war Mitglied der österreichischen Sozialdemokratie und trat in seinen vielfältigen Veröffentlichungen ebenso sehr für eine reformorientierte gerechtere Gesellschaft ein, wie er universalistische, weltbürgerliche Rechte und Freiheiten und als deren Repräsentation er ein aus humanistischem Geist geschaffenes vereintes Europa forderte. Von 1919 bis 1929 war er Ministerialrat mit dem Titel eines „Hofrats“ im österreichischen Bundeskanzleramt im Bereich internationale Wirtschaftsbeziehungen. Als Mitbegründer der 1922 gegründeten „Paneuropa-Union“ setzte er sich für die europäische Integration und eine europäische Friedensordnung ein, die den einzelnen Nationen Selbstbestimmung und Minderheiten rechtlichen Schutz gewähren sollte. In diesen Rahmen gehören auch seine herausgeberischen und publizistischen Tätigkeiten, unter anderem in den Zeitschriften „Reconstruction. An organ to promote political and economic reconstruction in Central and Eastern Europe“ und „Friedens-Warte. Zeitschrift für internationale Verständigung“. Beruflich mit der Rolle Österreichs in seinen Handelsbeziehungen zu den USA und Großbritannien, namentlich auch mit der Förderung des wirtschaftlichen Aufbaus der restrukturierten bzw. nach 1919 neu geschaffenen Staaten Mittelosteuropas beschäftigt, verfasste er in dieser Zeit neben kulturhistorischen und ideologiekritischen Arbeiten finanzwirtschaftliche Untersuchungen und industrielle Fachgutachten, unter anderem zu wasserwirtschaftlichen Themen und Fragen landwirtschaftlicher Entwicklung. Einige Aufmerksamkeit erregte er mit dem bereits erstmals 1904 veröffentlichten Buch „Moderne Rassentheorien“, in dem er kritisch und rational die theoretischen Grundlagen des zeitgenössischen Rassendenkens ebenso in Frage stellte wie er dessen Anwendbarkeit in politischen und sozialen Zusammenhängen bezweifelte.

Durch einen entsprechenden Beschluss des Preußischen Landtages musste Ende der 1920er Jahre auch an der Universität Halle, damals noch „Vereinigte Friedrichs Universität Halle-Wittenberg“, ein Lehrstuhl für Soziologie geschaffen bzw. umgewidmet werden. Da dies zum Nachteil der drei bis dahin bestehenden nationalökonomischen Lehrstühle geschah, legte die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät nach einem Schreiben des Dekans in der Personalakte Hertz’ vom 26. Juni 1929 wert darauf, für die Besetzung der neugeschaffenen Professur „nur solche Soziologen in Erwägung“ zu ziehen, „die von Haus aus Nationalökonomen oder Wirtschaftshistoriker sind und deshalb auch in Halle ihr ursprüngliches Fach neben der Soziologie weiter dozieren können.“ Neben dem Umstand, dass er in einer „Reihe Abhandlungen […] in sehr bemerkenswerter Weise“ verschiedene soziologische Fragestellungen behandelt habe, wird in seiner Vorstellung und Würdigung darauf verwiesen, dass Hertz bereits in dem genannten Buch von 1904 das „heikle und viel mißbehandelte“ Thema Rasse und Kultur“, so der Titel der späteren Auflagen, „mit großer Objektivität und überlegenem Verstande angefasst“ habe. „[…] die Fakultät glaubt, so wird abschließend seine Berufung empfohlen, „dass Hertz, der einen klaren Vortrag hat und ein gewandter Debattenredner ist, trotz seiner 51 Jahre noch ein guter Universitätsdozent werden dürfte, falls ihm ein Lehramt anvertraut wird.“ Hertz wurde schließlich nicht nur wegen seiner beide Gebiete abdeckenden soziologisch und volkswirtschaftlich bemerkenswerten Arbeiten am 16. Oktober 1929 zum 1. April 1930 als ordentlicher Professor nach Halle berufen und übernahm seine Aufgabe mit größtem Engagement, um für die Soziologie „werbend“ zu „wirken“ – das teilte Hertz dem Universitätskurator am 9. Juni 1930 mit:

„Jedenfalls will ich versuchen, die Soziologie einem möglichst weiten Kreise von Studierenden näherzubringen, was am besten durch Anknüpfung an zeitbewegte Probleme und solche Fragen, die auf dem Grenzgebiet zwischen Soziologie und anderen Wissenschaften liegen, erreicht werden dürfte.“

Von 1930 bis 1933 lehrte Hertz als ordentlicher Professor für Wirtschaftliche Staatswissenschaften und Soziologie an der Universität Halle und war zugleich Direktor des Seminars für Staatswissenschaften. Der ihm aufgrund seiner jüdischen Herkunft drohenden Entlassung durch den Nazi-Staat („Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933) kam Hertz zuvor und kehrte, nachdem er die erbetene Entlassung aus seinem Amt zum 1. Mai 1933 erhalten hatte, mit seiner Familie, mit der er zuvor in Halle in der Mozartstraße gelebt hatte, nach Österreich zurück, wo er zunächst als Privatgelehrter lebte. Ein Blick in Briefe und Akten zeigt Hertz als ebenso verbindlichen wie weitsichtigen und vorsichtigen Menschen, der bereits am 25. Februar 1933 um die zeitweilige Beurlaubung für eine Reise nach England nachgesucht hatte, um dort ein Werk über die deutsch-englischen Kulturbeziehungen fertig zu stellen. Dieses Gesuch wurde am 27. März 1933 „unter den heutigen Verhältnissen“ abgeschlagen, Hertz war allerdings bereits zu diesem Zeitpunkt nach Wien gereist, von wo aus er auch die Ausreise seiner Familie, seiner Ehefrau Edith und der beiden Kinder Maria (geb. 1916) und Johann Gottfried (geb. 1920) organisierte. Seine klare und richtige Einschätzung der Situation, mit der er in den folgenden Tagen seine Entlassung aus dem preußischen Staatsdienst und auch aus der deutschen Staatsbürgerschaft betrieb, wurde durch die Ereignisse der nächsten Wochen mehr als bestätigt. Bereits am 21. April fand eine Hausdurchsuchung in Hertz’ Wohnung in der Mozartstraße 20 statt. Laut Polizeibericht wurden Hinweise gefunden, dass Herz Sozialdemokrat sowie Angehöriger einer „jüdischen Großloge“ war und die Familie dem Verein „Die Naturfreunde“ angehörte; „erhebliches Beweismaterial wurde“ dagegen „nicht vorgefunden“. Bereits am selben Tag hatte allerdings die „Mitteldeutsche National-Zeitung“ eine Mitteilung des „‚Zentralausschuss zur Durchführung der nationalen Revolution‘ der Deutschen Studentenschaft Halle“ veröffentlicht, die an Infamie und Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ und in den folgenden Tagen in einer Pressekampagne zur Mobilisierung gegen Hertz mündete: „Professor Hertz“, so der auch in anderen Zeitungen („Saale-Zeitung“, „Hallische Nachrichten“), allerdings mit leichten Distanzierungssignalen, am 22. April 1933 erschienene Text habe

„in dem Kampf der jüdisch-marxistisch eingestellten Hochschulführung gegen die national gesinnte deutsche Hochschuljugend […] eine rege Tätigkeit entfaltet. Wie die ‚M.N.Z.‘ noch vor kurzem mitteilen konnte, ist Professor Hertz mit der Professorin Bethy Heimann als Beschimpfer rassischen Denkens in der Öffentlichkeit aufgetreten. Auch sind immer noch nicht die Zusammenhänge geklärt, zwischen dem Mordanschlag auf Professor H.F.K. Günther in Jena und dem Auftreten des aus Wien importierten Professor Hertz […] in Jena.“

Wie Denunziation, Hetze und totale Verdächtigung zusammengehen, zeigt der nachfolgende Satz in aller Deutlichkeit, auch in aller Erbärmlichkeit: „Wie erinnerlich stammte der Attentäter und die von ihm benutzte Waffe aus Wien, von wo her der Jude Hertz gekommen und wohin er angeblich wieder verschwunden ist.“ Die damit begonnene Kampagne wurde in den nächsten Tagen durch weitere „sensationelle Entdeckung(en)“, so die Überschrift in der „Mitteldeutschen National-Zeitung“ vom 25. April, weitergeführt. Denn nun wurden Hertz und seiner Familie Mittäterschaft am sogenannten „Reichstagsbrand“ vom 27./28. Februar 1933 unterstellt und ihre „Flucht“ als Schuldeingeständnis gewertet. „Dass es sich dabei nicht nur um eine Mitwisserschaft gehandelt habe“, so berichten die Hallischen Nachrichten am 26. April 1933 erneut aus einer „Zuschrift“ der „deutschen Studentenschaft“, „gehe aus dem Verhalten der Frau Professor Hertz hervor, die schon in den Mittags- und den frühen Nachmittagsstunden des 27. Februar in größter Erregung gewesen sei und Befürchtungen für das Leben ihres Mannes geäußert habe.“ Mit der ihm eigenen Mischung aus Vertrauen in rationale Gründe, höflicher Achtung auch eines ggf. weniger gutwilligen Gegenübers und stand festem Eintreten für Wahrheit und Vernunft, zu dem auch ein wohlverstandenes Interesse am Schutz der eigenen Familie und Person gehörte, ist Hertz in der Folgezeit diesen und anderen Unterstellungen entgegen getreten, auch dem Gerücht, man habe „Waffen“ in seiner Wohnung gefunden. „Inzwischen dürfte sich wohl aufgeklärt haben, dass es lediglich Kinderspielzeug ist, das meinem kleinen Jungen gehört“, schrieb Hertz am 26. April an den hallischen Polizeipräsidenten. Gegen totalisierende Verdächtigungen und Rassenhetze, wie sie beispielsweise am 26. April erneut in der „Mitteldeutschen National-Zeitung“ standen:

„[…] die Wiener Heimat und die Flucht des Juden Hertz nach Wien, die in diesem Zeitpunkt der Abwesenheit Hertz’ betriebene Greuelhetze zeigen mit erschreckender Deutlichkeit die engen Zusammenhänge zwischen Judentum und Kommunismus und den volkszersetzenden und zerstörenden Elementen in Deutschland“

stand Hertz mit seinem Vertrauen in einen pragmatischen Vernunftgebrauch und menschlichen Anstand freilich auf verlorenem Posten.

1938 flüchtete er mit seiner Familie vor dem „Anschluss“ Österreichs nach London und nahm dort als Frederick Hertz 1946 die britische Staatsbürgerschaft an, nachdem er ab 1938 in verschiedenen Emigrantenkomitees und wissenschaftlichen Vereinigungen gearbeitet hatte. Hertz beschäftige sich in dieser Zeit intensiv mit Rassismusforschung und der Rolle nationaler Orientierungen und Gemeinschaftsvorstellungen in sozialen Prozessen und politischen Konflikten. Unter anderem plante er die Gründung eines entsprechenden Forschungsinstituts und gründete einen Forschungszirkel, die „Racial Relations Group“, die später zu einer Einrichtung der Universität London wurde. Bis zu seinem Tod am 20. November 1964 lebte er als Privatgelehrter in London, hielt Vorlesungen im Bereich „Internationaler Beziehungen“ und schrieb aus einem liberaldemokratischen Geist heraus einige historische Studien zur vergleichenden Nationalismusforschung, mit einem Schwerpunkt auf dem Gebiet der Staatengründungen in der Nachfolge des Habsburgerreiches, aber auch zur politischen Theorie und Geschichte. Unvollendet blieb ein auf drei Bände angelegtes Werk zur Entwicklung und Geschichte der politischen Orientierungen und zur Mentalitätengeschichte in Deutschland: „The development of the German public mind. A social history of German political sentiments, aspirations and ideas“ (1957, 1962, 1975).

Hertz’ aktuelle Bedeutung liegt zunächst in seinen auch heute noch instruktiven Beiträgen zur Rassismus-Forschung. Wer seinen Beitrag „Rasse“ in Alfred Vierkandts 1931 erschienenem „Handwörterbuch der Soziologie“ liest und ihn mit den „sozialanthropologischen“ Bemerkungen zur Rassenfrage vergleicht, die der Anthropologe Friedrich Keiter (1906–1967), seit 1939 Dozent am Rassebiologischen Institut der Universität Würzburg, im 1956 in Stuttgart erschienenen „Handbuch der Soziologie“, herausgegeben von Werner Ziegenfuss, aufbietet, sieht den ganzen Verlust an intellektueller Weite und wissenschaftlicher Reflexivität, den die Nazi-Zeit auch noch für die Zeiten nach 1945 bedeutet hat. Zu bemerken ist auch, was die Wissenschaften in Deutschland durch das Exil, Vertreibung und Mord verloren haben.

Hertz, der wie viele der ersten Generation von Universitätssoziologen in Deutschland von Hause aus kein Soziologe, sondern wie Leopold von Wiese, der erste Inhaber des Kölner Lehrstuhls (1919), Volkswirt war, steht damit für jene Gründungsphase der Soziologie in Deutschland, in der sich diese zwischen Wirtschafts- und Staatswissenschaften, Philosophie und Geschichtswissenschaft erst einmal etablieren musste. Dass Hertz wie viele seiner mehr oder weniger gleichaltrigen Kollegen sich auf ein neues, erst noch zu schaffendes Arbeitsgebiet vorwagen konnte, verdankt er zum einen seinen weltbürgerlichen Interessen, zum anderen der auch ansonsten für die damalige Wirtschaftwissenschaften charakteristischen Verbindung von sozialräumlichen und gesellschaftstheoretischen Ansätzen mit einer breit angelegten Kulturgeschichte. Gerade dieser Ansatz ließ Platz und bot auch Perspektiven für die Erarbeitung von Entwicklungslinien im Bereich dessen, was heute im Rückgriff auf Max Weber als Formen der Vergesellschaftung im historischen Vergleich oder, in anderen Traditionslinien, als Mentalitätengeschichte oder Habitus-Formen untersucht wird. Grundlage und Hintergrund blieb und war für diese Generation, zu der auch andere Exilierte gehörten, die wie Hans Speier oder Albert Salomon keine Marxisten, durchaus aber Sozialdemokraten waren und später Liberale, mitunter auch Konservative wurden, der Rückbezug auf einen als „europäisch“  wahrgenommen Humanismus, der neben gesellschaftlichen auch politische Formen und kulturgeschichtliche Deutungen zu berücksichtigen suchte. Entsprechend breit sind denn auch Hertz’ Studien zu wirtschaftlichen und politischen Fragestellungen, seine Untersuchungen zur öffentlichen Meinung und zur Mentalitätengeschichte in Deutschland angelegt, die noch bis in die 1960er Jahre zumindest in angloamerikanischen Wissenschaftsdebatten, unter anderem in der auch auf Deutsch erschienenen Nationalismus-Studie von Kenneth Minogue (1970) auch Resonanz und Anerkennung fanden. Seine nach 1945 geschriebenen Studien zur Wirtschaftsgeschichte des Habsburgerreiches, zur Geschichte des Liberalismus und der öffentlichen Meinung in Deutschland sowie zur vergleichenden Nationalismus-Forschung stellen auch heute noch immer Ansatzpunkte der politischen Theorie- und Geschichtsforschung dar. Regionalentwicklung, Minderheitenschutz, grenzübergreifende Wirtschaftsförderung, aber auch die Auseinandersetzung mit Rassismus und Antisemitismus könnten an Hertz’ Studien anknüpfen, zumal an ihrem Materialreichtum, ihrem Bildungshorizont und ihrer Argumentationskraft. Im deutschen Sprachraum ist Hertz bis heute weitgehend vergessen. Das 1980 erschienene, groß angelegte Internationale Soziologenlexikon, herausgegeben von Wilhelm Bernsdorf und Horst Knospe, kennt ihn nicht.


Ausgewählte Publikationen als Friedrich Otto Hertz

  • Recht und Unrecht im Boerenkriege. Berlin 1902.
  • Moderne Rassentheorien. Kritische Essays. Wien 1904 (ab 1915 unter dem Titel „Kultur und Rasse“ 3. Auflage 1924, Reprint der ersten Auflage 2010).
  • Die Entstehung des Weltkriegs. Wien 1919.
  • Hans Günther als Rassenforscher. Berlin 1930.
  • Nationalgeist und Politik. Beiträge zur tieferen Erforschung des Weltkrieges. 1. Bd., Zürich 1937.

Ausgewählte Publikationen als Frederick Hertz

  • The economic problems of the Danubian states. London 1947. 
  • The development of the German public mind. 2 Bde., London 1957/1962.
  • Nationality in history and politics. A Study of the psychology and sociology of national sentiment and character. London 1944 (5. Aufl. 1966; amerikan. Ausgabe New York 1944, 3. Aufl. 1967).

Quellen und Literatur

  • UAH PA 7793.
  • George Peabody Gooch. In: German life and letters 18 (1964/65), 90.
  • Robert A. Kann: „Hertz, Friedrich Otto“. In: Neue Deutsche Biographie 8 (1969), 709–710 [Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd119554380.html.
  • Reinhard Müller: Friedrich Otto Hertz, 1878–1964. Ein bio-bibliographischer Beitrag. In: Jahrbuch. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes 1994. Freistadt 1994, 58–74.
  • Friedrich Otto Hertz. In: Lexikon deutsch-jüdischer Autoren/Archiv Bibliographia Judaica, hg. von Renate Heuer. 11 (2002), 136–148.

Bild: Herrn Reinhard Müller/Graz, der den Nachlass von F.O. Hertz verwaltet, wird für die Genehmigung zum Abdruck herzlich gedankt. Es stammt aus dem Besitz des Sohnes von F.O. Hertz, John Geoffrey Hurst (Johann Gottfried Hertz).


Zeitungsartikel

  • Saale-Zeitung Nr. 97 vom 26.4.1933.
  • Mitteldeutsche Nationalzeitung Nr. 97 vom 26.4.1933.
  • Hallische Nachrichten Nr. 97 vom 26. April 1933.
  • Hallische Nachrichten Nr. 94 vom 22. April 1933.
  • Saale-Zeitung Nr. 102 vom 3.5.1933.

Dokument

Friedrich Otto Hertz: Art. Rasse. In: Handwörterbuch der Soziologie, hg. von Alfred Vierkandt.
Stuttgart 1931, 458–466 (Auszüge)

Eine scharfe Definition läßt sich nicht geben. Auch gehen die Meinungen über Zahl und Abgrenzung der menschlichen Rassen weit auseinander. Selbst in einem so gut durchforschten Gebiet wie Europa hat man in neuester Zeit immer wieder neue Rassetypen zu entdecken geglaubt. Andererseits gibt es überall Übergänge zwischen den Typen, so daß die Aufgabe der Scheidung oft recht schwierig ist und zu gegensätzlichen Theorien Anlaß gibt. […]

Die eigentliche Bedeutung der Rasse für die Soziologie beginnt erst mit der Annahme, daß den körperlichen Verschiedenheiten auch solche seelisch-geistiger Art entsprechen. Solche Theorien können entweder rein erklärend sein oder sie können eine wertende und rechtfertigende Tendenz aufweisen. Über alle Fragen dieser Art herrschen jedenfalls die größten Meinungsverschiedenheiten und es kann fast nichts als wissenschaftlich sichergestellt gelten. […]

Der Überblick über die Ideengeschichte zeigt uns, daß gegenüber den wertenden, einer politischen Tendenz dienenden Rassentheorien die rein wissenschaftlichen Versuche einer Aufhellung des Problems der Zahl und Wirkung nach völlig in den Hintergrund treten. Alle jene Theorien verdienen zwar als Ideologien große soziologische Beachtung, ermangeln aber durchaus einer genügenden wissenschaftlichen Begründung. […]. Im allgemeinen läßt sich feststellen, daß es vielen Rassentheoretikern dieser Art an geschichtlichen und soziologischen Kenntnissen und Verständnis fehlt. Sie gehen von naturwissenschaftlichen, darwinistischen Gesichtspunkten aus und wenden sie kritiklos auf das ganz andere Methoden erfordernde Gebiet der Geisteswissenschaften an. Manchen wieder fehlen zwar nicht Kenntnisse, wohl aber die Unbefangenheit geschichtlichen und sozialen Problemen gegenüber. Das Rassendogma macht sie oft zur Kritik unfähig, so daß sie gegen alle Selbstwidersprüche und handgreiflichen Unmöglichkeiten ihrer Theorien völlig blind werden. […]

Noch unsicherer ist aber die Methode, Kulturen zu vergleichen, denn ihre Träger sind durchwegs Völker sehr gemischter Rasse und wir besitzen kaum ein verläßliches Mittel, um herauszufinden, in welchem Maße jedes Element an der Kulturschöpfung beteiligt war. Die Rassentheoretiker ersetzen zwar diesen Mangel durch kühne Intuition und erkennen mit unfehlbarer Sicherheit die Rassenzugehörigkeit oder Rassenzusammensetzung großer Männer und ganzer Schichten, selbst wenn uns von ihrem Typus gar nichts überliefert ist. […]

Gegen die Annahme geistiger Rassenzüge wird oft die Tatsache angeführt, daß innerhalb jeden Volkes und jeder Rasse zu jeder Zeit höchst verschiedene geistige Typen feststellbar sind, ferner daß das Bild eines Volkes im Laufe der Zeit außerordentliche Wandlungen durchmacht. Die Israeliten, die einst als barbarische Krieger in Kanaan einfielen und später als friedliche Bauern erscheinen, treten noch später als gewandte, unkriegerische Händler in der Weltgeschichte hervor. Auch vielen Germanen galt lange der Krieg als schönste Lebensart und fast alle Rassentheoretiker verherrlichen ja das heroische, kriegerische Ideal als das allein echt nordisch-germanische. Aber gerade die echtesten Vertreter der nordischen Rasse, Schweden und Norweger, haben schon sehr lange keinen Krieg geführt und auch die Holländer, Schweizer, Engländer und Amerikaner haben wenig Wikingerhaftes mehr an sich. […]

Daß bei allem geschichtlichen Geschehen auch eine erbmäßige Anlage mitspielt, ist durchaus wahrscheinlich. Nur läßt sich dies im Einzelnen kaum exakt nachweisen und es bleibt auch fast immer ganz ungewiß, ob es sich gerade um eine Rassenanlage handelt. […]

Die ungeheure Vielseitigkeit und Gegliedertheit des modernen Daseins erfordert aber wohl die mannigfaltigsten Anlagen. Jenes Gemeinwesen dürfte einen gewaltigen Vorteil vor den anderen besitzen, das die größte Zahl verschiedenartiger Anlagen vereinigt, es versteht, jede an seinem Platz zur Geltung kommen zu lassen und alle auch gemeinsamen, nationalen Zielen dienstbar zu machen. Daß verschiedene Temperamente oft abstoßend und aufreizend aufeinander wirken, kann wohl durch Erziehung, gemeinsame Erlebnisse und Tradition überwunden werden. Selbst die Natur zeigt uns, daß Wesen, denen feindliche Instinkte gegeneinander eingepflanzt sind, zu ruhigem Zusammenleben, ja sogar Zusammenwirken gebracht werden können. Auf jedem Bauernhof sieht man Hund und Katze friedlich nebeneinander. Die menschliche Gesellschaft benutzt aber noch viel stärkere Mittel der gegenseitigen Anpassung. Solche Erwägungen werden ja durch die kaum bestreitbare Erfahrung bekräftigt, daß höhere Kultur wohl nur dort eigenwüchsig emporgesprossen ist, wo mehrere Rassen sich gemischt haben. Dabei muss nicht gerade die physische Mischung den Fortschritt erzeugt haben, wie manche meinen. Es könnte auch die bloße Mischung von Kulturelementen, die gegenseitige Berührung, Reibung, Nachahmung, Aneiferung sein, die kulturfördernd wirkt.


Quelle: Friedemann Stengel (Hg.): Ausgeschlossen. Die 1933-1945 entlassenen Hochschullehrer der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Halle 2016, S. 169 - 182

Autor: Werner Nell

Weitere Bilder und Dokumente:

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