Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Joerges, Rudolf

Joerges, Rudolf

geboren:9.6.1868 Altenkirchen
gestorben:4.12.1957 Halle
Konfession:evangelisch
Vater:Schulrektor

Joerges, Rudolf

Arbeits- und Zivilrechtler

Nur fünf Wochen nach der ersten Entlassungswelle an der Universität Halle auf der Grundlage des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 wurde auch Rudolf Joerges (1868–1957), seit 1928 persönlicher Ordinarius mit der Verpflichtung der Lehre im Arbeits- und Zivilrecht, durch Ministerialerlass vom 19. Mai 1933 von seinen Universitätsämtern beurlaubt. Der Grund hierfür war nicht das Fehlen arischer Abstammung. Vielmehr machten ihn sein wissenschaftlicher Schwerpunkt im republikanischen Arbeitsrecht und sein engagiertes Wirken in der lokalen arbeits- und schlichtungsrechtlichen Praxis der Nähe zum Marxismus verdächtig. Joerges war neben Theodor Brugsch von der Medizinischen Fakultät und Ernst Grünfeld von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät einer von drei Professoren in Halle, für deren Boykott sich „Die Deutsche Studentenschaft“ Ende Mai 1933 entschied. Mitgeteilt wurde das in einem Schreiben der Deutschen Studentenschaft vom 29. Mai 1933 an das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung. Beigefügt war diesem Schreiben die von der Studentenschaft der Vereinigten Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg erstellte „Liste der zu boykottierenden Professoren der U. Halle“. Die kurze Begründung für Joerges lautete: „Novembersozialist. Wissenschaftlich nicht anerkannt, übler Vertreter des Marxismus, der Fakultät oktroyiert (s. Anlage)“. Die in herabsetzendem und teilweise denunziatorischem Ton gehaltene Anlage, die in diesem Band bei den Dokumenten zu Ernst Grünfeld abgedruckt ist, erwähnte unter anderem, dass Joerges im Schlichtungsausschuss und im Kalischiedsgericht „vorzugsweise die Sozialdemokratischen Gewerkschaften“ begünstigte, andererseits „mit den Führern der Kaliindustrie große Bankette“ veranstaltete. Hierbei seien „als seine besonderen Freunde die sozialdemokratischen Gewerkschaftsführer, der frühere Regierungspräsident v. Harnack, der frühere Ministerpräsident Deist-Anhalt und der Jude Sinzheimer zugegen“ gewesen.

Nachdem er durch einen weiteren Ministerialerlass vom 10. Juli 1933 auch aus der Leitung des von ihm Ende 1929 gegründeten Instituts für Arbeitsrecht gedrängt worden war, wurde er am 23. September 1933 auf Grund des § 6 Satz 1 des Berufsbeamtengesetzes mit Wirkung ab 1. Januar 1934 in den Ruhestand versetzt. Nach dieser sehr offen formulierten Auffangvorschrift konnten „zur Vereinfachung der Verwaltung“ Beamte in den Ruhestand versetzt werden, „auch wenn sie noch nicht dienstunfähig sind“. Das Institut für Arbeitsrecht, nach dem 1921 an der Leipziger Universität gegründeten und von Erwin Jacobi (1884–1965) geleiteten Institut eines der ersten wissenschaftlichen Zentren des Arbeitsrechts an deutschen Universitäten, wurde im nationalsozialistischen Sinn umgenutzt und diente noch einige Zeit für Vorträge zum neuen völkischen Arbeitsrecht.

Rudolf Joerges wurde am 19. Juni 1868 im rheinländischen Altenkirchen geboren. Nach Abschluss des Realgymnasiums Elberfeld mit dem Abitur zu Ostern 1887 nahm er das Studium der Philosophie und der (neusprachlichen) Philologie an der Universität Bonn auf, das er später in Straßburg und Marburg fortsetzte. Ein Jahr nach seiner Heirat wurde er am 10. August 1901 in Bonn auf der Grundlage einer psychologischen Arbeit zur „Lehre von den Empfindungen bei Descartes“ zum Doktor der Philosophie promoviert. Zugleich legte er die Staatsprüfung ab, die ihn zur Lehre für philosophische Propädeutik, Englisch und Deutsch befähigte.

Nach weiteren Studien- und Praxiserfahrungen in der Philosophie und Pädagogik entschloss er sich im Sommer 1906 zur Aufnahme des Studiums der Rechtswissenschaft, zunächst in Bonn und ab Herbst 1906 an der Universität Halle. Rund drei Jahre später legte Rudolf Joerges am 9. Juni 1909 die Erste Staatsprüfung beim Oberlandesgericht Naumburg ab. Im selben Jahr wurde er am 18. Dezember 1909 mit der Dissertation „Spendungsgeschäft und Sammelvermögen bei der Sammlung von Vermögen für einen vorübergehenden Zweck“ zum Dr. iur. promoviert. Von 1909 bis 1913 absolvierte Joerges als Gerichtsreferendar den juristischen Vorbereitungsdienst, aus dem er im Oktober 1913 auf eigenen Wunsch ausschied, um sich ausschließlich der Wissenschaft zuzuwenden. Zwischenzeitlich hatte er sich neben dem justizpraktischen Referendariat auch wissenschaftlich weiter qualifiziert und mit der Abhandlung „Die eheliche Lebensgemeinschaft“ am 25. April 1912 erfolgreich das Verfahren der Habilitation an der Juristischen Fakultät der Vereinigten Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg abgeschlossen. Er erlangte hierdurch die Lehrbefugnis für die Fächer Rechtsphilosophie, römisches und deutsches bürgerliches Recht.

Als Privatdozent trug Rudolf Joerges in den Kriegsjahren 1914 bis 1918 durch weit überobligatorisches Engagement in der Lehre wesentlich zur Aufrechterhaltung des durch die Einberufung mehrerer Ordinarien gefährdeten Lehrbetriebs bei. Wohl auch wegen dieses Engagements, aber auch wegen seiner nach Inhalt, Methode und Stil erfolgreichen Vorlesungen wurde ihm am 16. April 1918 der Titel des Professors verliehen. Den Status des Privatdozenten behielt Joerges noch bei, bis er am 20. Oktober 1919 zum persönlichen Extraordinarius für Rechtsphilosophie und Rechtsmethodologie ernannt wurde.

Ebenfalls im Nachkriegsjahr 1919 begann Rudolf Joerges, seine akademische Tätigkeit durch arbeitsrechtspraktische Tätigkeit auf dem Gebiet der Schlichtung zu erweitern. Am 9. Februar 1919 wurde er von der preußischen Regierung zum Vorsitzenden des Staatlichen Schlichtungsausschusses für Halle und den Saalkreis berufen und wenig später zum ersten Vorsitzenden der Reichsvereinigung der Deutschen Schlichtungsausschüsse gewählt. Nach der Errichtung des so genannten Kalischiedsgerichts für die Entschädigung von Arbeitnehmern bei Übertragungen von Kali-Absatzbeteiligungen durch Gesetz vom Oktober 1921 wurde Rudolf Joerges Mitte Februar 1922 vom Reichswirtschaftsminister ebenfalls zum Vorsitzenden ernannt.

Das auch vor diesem praktischen Hintergrund nachvollziehbare Bemühen von Joerges um Erweiterung seines Lehrauftrages an der Juristischen Fakultät auf das Arbeitsrecht fand zunächst keinen Anklang. Die Fakultät hielt an der überkommenen Zweiteilung in privates und öffentliches Arbeitsrecht fest. Erst durch einen Ministerialerlass vom 6. März 1924 wurde Rudolf Joerges die Vertretung des Fachgebietes Arbeitsrecht in Vorlesungen und Übungen übertragen. Damit entstand erstmalig in der Geschichte der Fakultät ein einheitliches, modernes Lehrkonzept des Arbeitsrechts. Ihren sichtbaren Ausdruck erlangte die gewachsene Bedeutung des Arbeitsrechts an der Juristischen Fakultät in Halle im Jahr 1928 mit der von Rudolf Joerges vorbereiteten, durch großzügige Spenden der Gewerkschaften und der industriellen Arbeitgeberverbände ermöglichten Gründung eines Instituts für Arbeitsrecht. Die feierliche Eröffnung fand am 16. Oktober 1929 in der Aula der Universität statt. Rudolf Joerges wurde zum Direktor auf Lebenszeit berufen. In die Zeit der Vorbereitung des Instituts für Arbeitsrecht fällt ein weiteres wichtiges Ereignis für Rudolf Joerges: Kurz vor der Vollendung seines 60. Lebensjahres wurde er am 3. April 1928 zum persönlichen Ordinarius berufen. Viel Zeit für die Entfaltung seiner arbeitsrechtswissenschaftlichen und arbeitspraktischen Tätigkeit blieb ihm, dem spät Berufenen, nicht mehr. Dreieinhalb Jahre später veranlasste die nationalsozialistische Wissenschafts- und Hochschulpolitik seine Entlassung aus der Universität.

Nach entlassungs- und kriegsbedingter Unterbrechung von 13 Jahren wurde Rudolf Joerges, der sich bereits im Sommer 1945 erneut und mit großem Engagement der Wiedereinrichtung des Lehrbetriebs an der Juristischen Fakultät zur Verfügung gestellt hatte, schließlich am 1. Oktober 1946 zum ordentlichen Professor an der Staats- und Rechtswissenschaftlichen Fakultät für die Fächer Rechtsphilosophie, Römisches Recht, Bürgerliches Recht, Arbeitsrecht und Rechtsmethodologie ernannt. Ungeachtet seines fortgeschrittenen Alters wirkte er tatkräftig an universitärer Lehre und Verwaltung mit, übernahm sogar 1948 in seinem 80. Lebensjahr für eine volle Amtsperiode bis zum 31. Juli 1950 das Dekanat. Im Herbst 1950 trat er endgültig in den Ruhestand. Am 4. Dezember 1957 verstarb Rudolf Joerges, fast 90 Jahre alt, in Halle.

Für eine kurze wissenschaftsgeschichtliche Einordnung von Rudolf Joerges lassen sich vier Merkmale festhalten, die allesamt eng verknüpft sind mit seinem für eine akademische Karriere des frühen 20. Jahrhunderts ungewöhnlichen Lebensweg. Im Vordergrund steht die Bedeutung von Rudolf Joerges für die Herausbildung des modernen Arbeitsrechts an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Halle. Durch seine Konzeption von Arbeitsrechtswissenschaft und Arbeitsrechtslehre wurde die Thematik aus ihrer überkommenen Mitbetreuung teils durch das Zivilrecht, teils durch das Öffentliche Recht herausgelöst und zu einem eigenständigen Fach gemacht. Ihren institutionellen Höhepunkt fand diese Entwicklung in der Gründung des Instituts für Arbeitsrecht im Jahr 1929. Damit war in Halle neben dem im Jahr 1921 an der Juristischen Fakultät der Universität Leipzig eingerichteten und von Erwin Jacobi geleiteten Institut für Arbeitsrecht, dem ersten seiner Art in Deutschland, ein zweites arbeitsrechtswissenschaftliches Zentrum für eine zeitgemäße Bearbeitung von Problemlagen der Industrieregion Mitteldeutschland entstanden.

Ein zweites Merkmal des Wirkens von Rudolf Joerges, das hieran unmittelbar anknüpft, ist die Zusammenführung universitärer Lehre mit der Praxis auf den Gebieten des Arbeitsrechts und der Beilegung von arbeitsbezogenen Streitigkeiten. Die erwähnte Tatsache, dass die Gründungsfinanzierung des Instituts sowohl durch die Gewerkschaften als auch die Arbeitgeberverbände Mitteldeutschlands bereitgestellt wurde, ist ein deutlicher Beleg für die lagerübergreifende Anerkennung, die sich Rudolf Joerges als Schlichter, Richter und Rechtsberater von Anbeginn der Weimarer Republik in Halle und Mitteldeutschland verschafft hatte.

Die beiden weiteren Kennzeichen seines wissenschaftlichen Wirkens lassen sich aus seinem besonderen wissenschaftlichen Werdegang, der zunächst zur philosophischen, pädagogischen und psychologischen Qualifikation geführt hatte, ableiten. Rudolf Joerges legte einen Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Tätigkeit auf die Methode der Rechtswissenschaft und ihres Studiums. Programmatisch zusammengefasst findet sich dieses Interesse in der 1916 bei Duncker & Humblot erschienenen umfangreichen Schrift „Rechtsunterricht und Rechtsstudium. Pädagogisches, Logisches, Psychologisches zur Reform“. Auch schon in seiner Antrittsvorlesung nach der Habilitation 1912 hatte er sich mit dem „Rechtsunterricht und Rechtsstudium nach wissenschaftlichen Grundsätzen“, also mit ausbildungsmethodischen Fragen, befasst.

Schließlich behielt Rudolf Joerges seine ursprüngliche philosophische Prägung auch in seiner rechtswissenschaftlichen Arbeit bei, verknüpfte sie allerdings unter dem Einfluss seines Lehrers Rudolf Stammler an der Universität Halle mit Ansätzen und Erkenntnisinteressen der Rechtsphilosophie. Die Anreicherung des rechtswissenschaftlichen Denkens durch die Fragen und Theorien der Rechtsphilosophie kennzeichneten seinen Arbeits- und Lehrstil bis zum Ende. Möglicherweise lag hierin auch ein Grund für die nach dem Ersten Weltkrieg und bis 1933 nur eingeschränkte Bereitschaft der Juristischen Fakultät in Halle zur wissenschaftlichen Integration von Rudolf Joerges.


Ausgewählte Publikationen von Rudolf Joerges

  • Die Lehre von den Empfindungen bei Descartes. Düsseldorf 1901 (philosophische Dissertation Bonn 1901).
  • Die rechtliche Natur des Spendungsgeschäfts bei der Sammlung von Vermögen für einen vorübergehenden Zweck (juristische Dissertation Halle 1909).
  • Die eheliche Lebensgemeinschaft in ihrem Begriffe, in ihren Gestaltungen und in ihren vermögensrechtlichen Beziehungen, Halle 1912 (Habilitationsschrift Halle 1912).
  • Rechtsunterricht und Rechtsstudium. Pädagogisches, Logisches, Psychologisches zur Reform. München 1916.

Quellen und Literatur

  • Eberle 84–86, 293f.
  • Rolf Lieberwirth: Rudolf Joerges (1868–1957). In: Professoren der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg im Dienst einer humanistischen und fortschrittsfördernden Wissenschaft. Beiträge zur Universitätsgeschichte. Halle 1987, 74–82.
  • Rolf Lieberwirth, Geschichte der Juristischen Fakultät der Universität Halle-Wittenberg nach 1945, 2. ergänzte Auflage, Halle an der Saale 2010.
  • Rudolf Joerges. In: Philosophisches Denken in Halle. Personen und Texte. Rechts- und politikphilosophische Denker. Rudolf Stammler, Rudolf Joerges, Gustav Boehmer und Ottomar Wichmann, bearb. und hg. von Ingomar Kloos in Verbindung mit Regina Meyer, Halle 2006, 85–133.

Bilder: UAH.

Quelle: Friedemann Stengel (Hg.): Ausgeschlossen. Die 1933-1945 entlassenen Hochschullehrer der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Halle 2016, S. 223 - 230

Autor: Armin Höland

Weitere Bilder und Dokumente:

Dokument: Joerges, Rudolf

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