Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Kisch, Guido

Kisch, Guido

geboren:12.1.1889 Prag
gestorben:7.7.1985 Basel
Konfession:jüdisch
Vater:Rabbiner, Gymnasialprofessor

Kisch, Guido

Rechtshistoriker, Handelsrechtler

Guido Kisch wurde als Sohn einer angesehenen jüdischen Familie in Prag geboren. Sein Vater war Rabbiner. Der bekannte „rasende Reporter“ Egon Erwin Kisch war sein Großvetter. Kischs Erziehung erfolgte in betont jüdischer Familientradition. Jüdischer Glaube und Pflichtbewusstsein sollten ihn zeitlebens prägen. Nach dem Abitur studierte Kisch Rechtswissenschaften an der deutschen Universität zu Prag. Dort wurde er mit erfolgreichem Abschluss zum Dr. iur. utr. promoviert und trat darauf in den königlichkaiserlichen Justizdienst ein. 1914 habilitierte er sich bei dem bedeutenden Prozessrechtler Adolf Wach in Leipzig (wo die christliche Taufe für jüdische Habilitanden nicht erforderlich war) über den deutschen Arrestprozess. In Leipzig beeinflussten den jungen Kisch außer seinem akademischen Lehrer die namhaften Rechtswissenschaftler Erwin Jacobi und Paul Koschaker. Letztere hielten ihm lebenslange Freundschaft. 1919 erhielt Kisch die Berufung auf eine Professur an der Universität Königsberg, wo er unter anderem Max Fleischmann kennenlernte. Es folgten Rufe an die deutsche Universität zu Prag und die Universität Halle. Den letzteren nahm Kisch an und begann 1922 seine Lehrund Forschungstätigkeit in Halle. Neben deutscher Rechtsgeschichte las Kisch Handelsrecht, Schifffahrtsrecht, Wechsel- und Wertpapierrecht sowie Bergrecht. Zu Kischs hallischen Fakultätskollegen gehörten neben Max Fleischmann, August Finger, Rudolf Joerges, Julius von Gierke und Carl Bilfinger. Darüber hinaus war er mit dem bedeutenden Mediävisten Robert Holtzmann und dem Literaturhistoriker Georg Baesecke befreundet.

Während seiner Hochschullehrertätigkeit in Halle gründete Kisch seine Familie. 1929 heiratete er in Breslau Hildegard Feywulowitz, eine gebürtige Ostpreußin. Ein Jahr später kam der Sohn Alexander in Halle zur Welt. Er blieb das einzige Kind der Kischs.

Neben seiner Lehr- und Forschungstätigkeit an der Fakultät wirkte Kisch als Mitglied der Historischen Kommission für die Provinz Sachsen und für Anhalt, der Deutschen Gesellschaft für Wissenschaft und Kunst in Prag und der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung.

Im März 1933 musste sich Kisch in der Aula im Rahmen einer Feierstunde die Rede von Carl Bilfinger anhören, welcher die Versammelten auf die eingetretenen politischen Verhältnisse einschwor. Wenige Tage später wurde Kisch als jüdischer Hochschullehrer auf der Grundlage des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 zunächst beurlaubt und schließlich am 26. Oktober 1933 – unter entwürdigenden Bedingungen – entlassen. Zum 31. Dezember 1933 wurde die Beendigung der Besoldung verfügt. Einem Widerspruch Kischs wurde nicht entsprochen. Unter dem 30. Oktober 1933 übersandte Kisch die Schlüssel für das Dozentenzimmer, das Hauptgebäude des Juristischen Seminars (Thomasianum), das Direktorenzimmer und die Schublade des eigenen Schreibtisches. Wenige Monate später erwog man den Widerruf der Einbürgerung, die Kisch als Österreicher im Zusammenhang mit seiner ständigen Wohnsitznahme in Deutschland erhalten hatte. Vor diesem Hintergrund holte der Regierungspräsident des Regierungsbezirks Merseburg beim Dekan Auskünfte über Kischs wissenschaftliche Werke ein. Der Dekan bestätigte, dass Kischs Arbeiten zur Rechtsgeschichte „von aufrichtigem Verständnisse für die deutsche Rechtseigenart getragen sind und eine spezifisch jüdische Geisteshaltung nicht erkennen lassen“. Selbst seine Arbeiten zur Geschichte der Juden im Mittelalter gäben „keinerlei Anlaß zu der Annahme, daß Prof. Kisch damit besondere Werte […] der jüdischen Rasse“ betont. Vom Widerruf der Einbürgerung nahm man dann Abstand. Dessen ungeachtet hatte er sein Amt als Hochschullehrer und damit die Grundlage für die wirtschaftliche Existenz der Familie verloren. Hinzu kam die unüberhör- und unübersehbar wachsende Bedrohung für Leib und Leben infolge der radikalen und menschenverachtenden nationalsozialistischen Rassenpolitik.

Nach erfolglosen Bemühungen um eine berufliche Alternative emigrierte Guido Kisch 1935 mit seiner Familie in die USA. Ab 1937 lehrte er am Jewish Institute of Religion in New York, das Rabbiner ausbildete. Darüber hinaus war er Research Associate an der University of Notre Dame, Indiana, und am Hebrew Union College New York. Während der NS-Herrschaft sind Kischs Schwiegereltern, Schwester und Schwager von den Nazis umgebracht worden. Nach dem Ende der Nazi-Barbarei kümmerte sich Kisch von New York aus um seine in Halle verbliebenen Bücher, Manuskripte, Korrespondenzen, Schriften sowie verschiedene Wohnungseinrichtungsgegenstände. Dabei diente ihm der erste Nachkriegsrektor, Otto Eißfeldt, als akzeptierter Ansprechpartner. Der Bestand an Schriftstücken usw. sowie die Wohnungseinrichtung waren jedoch vernichtet bzw. veräußert worden. Paul Koschaker hat darüber hinaus bei der Universität Halle vorgefühlt, ob eine Rückberufung seines jüdischen Freundes vielleicht möglich wäre. Kisch hat darauf nicht reagiert, wohl nicht zuletzt angesichts der unter sowjetischer Besatzung aufziehenden politischen Verhältnisse.

Das Fehlen der akademischen Lehrdisziplin Rechtsgeschichte, die so andersartige Welt und die für ihn wohl immer fremd gebliebene Sprache ließen den Gelehrten im Exil nicht heimisch werden. 1960 siedelten die Eheleute Kisch nach Basel – und ostentativ nicht nach Deutschland (!) – über, wo Kisch seit den 1950er Jahren Vorlesungen hielt. Die Baseler Juristische Fakultät ernannte Kisch 1960 zu ihrem Ehrendozenten. Weitere Ehrungen waren eine Festschrift (1955), die Ehrenpromotion zum Dr. phil. h. c. der Universität Freiburg im Breisgau (1967), die Ehrenmedaille der Karlsuniversität Prag (1969), die Wahl zum Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (1964), der Jacob-Burckhardt-Preis (1972) sowie die Benennung einer Straße in Halle an der Saale (2004). Mit seiner Autobiographie (1975) hat Kisch ein eindrucksvolles Zeugnis der wissenschaftlichen Akribie, aber auch der Entrechtung und menschlichen Aufrichtigkeit, hinterlassen. Er starb am 7. Juli 1985 in Basel.

Kisch hat wichtige Arbeiten, einschließlich Editionen, zur deutschen und europäischen Rechtsgeschichte vorgelegt, insgesamt 777 Titel. Zu seinen Hauptarbeitsgebieten gehörten der Sachsenspiegel, die Rechtsgeschichte des Deutschordenslandes, Leipziger und Magdeburger Schöffensprüche, das Recht im Zeitalter des Humanismus, die Rechts- und Soziallehre Melanchthons, Erasmus’ von Rotterdam, Zasius’, Reuchlins und die Sozial- und Rechtsgeschichte der Juden. Besondere Hervorhebung verdient die Edition der Leipziger Schöffenspruchsammlung 1919. Die ihm 1922 von den Monumenta Germaniae Historica angebotene Edition der Glossen zum Sachsenspiegel lehnte er ab. Sie wird seit 1994 von den mittelbaren Amtsnachfolgern Kischs, Rolf Lieberwirth und Heiner Lück, bei der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig betrieben.

Kisch hatte 1931 für seine Publikationsprojekte und die Arbeiten seiner Schüler die Reihe „Deutschrechtliche Forschungen“ begründet. Nach seiner Vertreibung aus Halle ist ihm die Herausgeberschaft entzogen worden. Auch eine handelsrechtliche Schriftenreihe gab er in seiner hallischen Zeit heraus („Beiträge zum Handelsrecht“, 7 Bände 1928–1933).

Kisch gehört zu den bedeutendsten Rechtshistorikern und Erforschern der jüdischen Rechts- und Kulturgeschichte seiner Zeit, auch im internationalen Kontext. Seine Arbeiten sind noch heute unverzichtbar.


Ausgewählte Publikationen von Guido Kisch

  • Leipziger Schöffenspruchsammlung. Leipzig 1919.
  • Sachsenspiegel and Bible. Researches in the Source History of the Sachsenspiegel and the Influence of the Bible on Mediaeval German Law. Notre Dame, Indiana, 1941.
  • Melanchthons Rechts- und Soziallehre. Berlin 1967.
  • Die Kulmer Handfeste. Text, rechtshistorische und textkritische Untersuchungen […]. Stuttgart 1931 (2. Aufl. 1978).
  • Forschungen zur Rechts-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Juden. Sigmaringen 1978–1980.
  • Ausgewählte Schriften. 3 Bde., Sigmaringen 1978–1980.

Literatur

  • Wilhelm Güde: Verzeichnis der Schriften von Guido Kisch zur mittelalterlichen Rechtsgeschichte. In: Guido Kisch: Forschungen zur Rechts- und Sozialgeschichte des Mittelalters. Bd. 3, Sigmaringen 1980, 519–544.
  • Ders.: Der Rechtshistoriker Guido Kisch (1889–1985). Karlsruhe 2010. 
  • Guido Kisch: Der Lebensweg eines Rechtshistorikers. Erinnerungen. Sigmaringen 1975.
  • Heiner Lück: Der Rechtshistoriker Guido Kisch (1889–1985) und sein Beitrag zur Sachsenspiegelforschung. In: Walter Pauly (Hg.): Hallesche Rechtsgelehrte jüdischer Herkunft, Köln u.a. 1996, 53–68.
  • Ders.: Guido Kisch (1889–1985). In: Albrecht Cordes, Heiner Lück und Dieter Werkmüller (Hgg.): Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 2, 2. Aufl. Berlin 2012, 1840–1842.

Bild: Professor in Halle 1922–1933, aus dem Besitz der Familie.

Quelle: Friedemann Stengel (Hg.): Ausgeschlossen. Die 1933-1945 entlassenen Hochschullehrer der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Halle 2016, S. 231 - 238

Autor: Heiner Lück

Weitere Bilder und Dokumente:

Dokument: Kisch, Guido

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