Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Reichwein, Adolf

Reichwein, Adolf

geboren:3.10.1898 Bad Ems
gestorben:20.10.1944 Berlin-Plötzensee
Konfession:evangelisch
Vater:Volksschullehrer

Reichwein, Adolf

Pädagoge

Adolf Reichwein dürfte der bekannteste hallesche Hochschullehrer sein, der sich dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus anschloss und auch der einzige Widerstandskämpfer, der zu den pädagogischen Klassikern gezählt wird. Er hatte sich 1940/41 der Widerstandsgruppe um Helmuth James Graf von Moltke, dem Kreisauer Kreis, angeschlossen, wo er als Experte für Bildung und Kultur Kultusminister einer Regierung nach Hitler werden sollte. Am 4. Juli 1944 nach einem konspirativen Treffen mit führenden Vertretern des kommunistischen Widerstands verhaftet, wurde er am 20. Oktober 1944 vom Volksgerichtshof unter Roland Freisler wegen Landesverrats zum Tode verurteilt und am gleichen Tag in Plötzensee hingerichtet.

Geboren 1898 im preußischen Bad Ems, wuchs Reichwein seit 1904 in Ober-Rosbach in der hessischen Wetterau auf. Die Mutter stammte aus einer katholischen Rheingauer Kaufmannsfamilie, der Vater war Volksschullehrer, Sozialdemokrat und Protestant. Wie viele Gymnasiasten seiner Generation schloss Reichwein sich der Jugendbewegung (Wandervogel) an und meldete sich als Freiwilliger im Ersten Weltkrieg, der ihn – er wurde schwer verletzt – allerdings zum Kriegsgegner werden ließ. Er studierte in Frankfurt, später Marburg Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte, Volkswirtschaft, Soziologie und Philosophie und promovierte 1921 bei dem Marburger Historiker Friedrich Wolters mit einer Arbeit über China und Europa im 18. Jahrhundert. Danach war er in unterschiedlichen Funktionen in der Volks- und Arbeiterbildung(sbewegung) tätig, ab 1925 als Leiter der bekannten städtischen Volkshochschule in Jena. Nach ausgedehnten Forschungsreisen (USA, Alaska, Mexiko, Japan, China 1926/27) und Exkursionen (Skandinavien und Südosteuropa 1928 und 1929) machte er sich einen Namen als Weltwirtschaftsexperte und wurde 1929 persönlicher Referent des parteilosen preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, Carl Heinrich Becker (1876–1933) und Leiter der Pressestelle des Ministeriums.

Beckers Nachfolger Adolf Grimme (1889–1963) berief Reichwein an die neugegründete Pädagogische Akademie in Halle, wo er vom 1. April 1930 bis zum 9. August 1933, beurlaubt ab 24. April 1933, eine Professur für Geschichte und Staatsbürgerkunde innehatte. Reichwein wurde nach § 5 Abs. 1 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums entlassen, d.h. unter Beibehaltung seiner bisherigen Dienstbezeichnung und Diensteinkommen in ein Amt von geringerem Rang versetzt. Auf eigenen Wunsch wurde er ab dem 1. Oktober 1933 Lehrer an der einklassigen Volksschule in Tiefensee in der Nähe von Berlin, wo er bis zum 15. September 1939 unterrichtete. Ab dem 16. Mai 1939 wurde er an die Staatlichen Museen zu Berlin beurlaubt, wo er die Abteilung Schule und Museum beim Museum für Deutsche Volkskunde leitete. In dieser Funktion unternahm Reichwein zahlreiche Dienst- und Vortragsreisen, die er für konspirative Aktivitäten des Kreisauer Kreises nutzte, indem er zu Oppositionskreisen Kontakt aufnahm und unter ihnen Verbindungen herstellte.

An der Pädagogischen Akademie muss Reichwein, nicht zuletzt wohl weil er mit einem eigenen kleinen Flugzeug unterwegs war und sich stark in die die Akademie prägende Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden einbrachte, einer der Stars gewesen sein.

1930, nach dem Wahlerfolg der NSDAP, war Reichwein in die SPD eingetreten (Austritt März 1933) und dort in dem Kreis der religiösen Sozialisten um Carl Mennicke und Paul Tillich, die auch eine nationalere Ausrichtung der SPD forderten, engagiert. Politisch war Reichwein, auch wenn er der SPD angehörte, ein Individualist und eher nationalkonservativ eingestellt. „Seit den frühen zwanziger Jahren“, so Sabine Hohmann, „hatte er sich verschiedenen sozialistischen Geisteshaltungen zugeordnet. Er sah sich in der Nähe der ‚religiösen Sozialisten‘, als ‚Freibeuter an der Peripherie des Sozialismus‘, als ‚ökonomischer Sozialist‘ und schließlich als ‚nationaler Sozialist‘“. Nach seiner Entlassung 1933 wurde er politisch nicht verfolgt, aber er wahrte Distanz zur Politik und gehörte nicht zu den ehemaligen Dozenten der Pädagogischen Akademie, die in die  NSDAP eintraten. Reichwein konnte Kontakte ins preußische Kultusministerium nutzen, um wieder in ein Lehramt eingestellt zu werden. Dazu hatte er mit Datum vom 10. Juni 1933 die zehnseitigen maschinenschriftlichen „Bemerkungen zu einer Selbstdarstellung“ für Kurt Zierold verfasst, ein Bekannter aus gemeinsamen Tagen im Kultusministerium, wo dieser Oberministerialrat war und sich bei Ernst Bargheer, dem Leiter des Ressorts Lehrerbildung, erfolgreich für Reichwein einsetzte. Dem Ministerium empfahl sich Reichwein in den „Bemerkungen“ folgendermaßen: „Dörfliches Leben, Jugendbewegung, Frontkameradschaft waren die drei Wurzeln, aus denen sich diese Idee [sich der volkstümlichen Bildung zu widmen – PS] nährte“, wie auch im Hinblick auf seine Tätigkeit in der Arbeiterbildung und Volkshochschule damit, „in direktem Gegensatz zu der damals weitverbreiteten (…) ‚liberalen Bildungsidee‘“ gestanden zu haben.


Ausgewählte Publikationen von Adolf Reichwein

  • China und Europa. Geistige und künstlerische Beziehungen im 18. Jahrhundert. Stuttgart; Berlin 1923.
  • Die Rohstoffe der Erde im Bereich der Wirtschaft. 1. und 2. Aufl. Jena 1924.
  • Schaffendes Schulvolk. Stuttgart; Berlin 1937.
  • Der Film in der Landschule. Stuttgart; Berlin 1938.
  • Pädagogische Schriften. Kommentierte Werkausgabe in fünf Bänden, hg. von Karl Christoph Lingelbach und Ullrich Amlung. Bad Heilbrunn 2011 und 2013.

Literatur

  • Ullrich Amlung: Adolf Reichwein 1898–1944. Ein Lebensbild des politischen Pädagogen, Volkskundlers und Widerstandskämpfers. 2 Bde. Frankfurt a.M. 1991.
  • Ullrich Amlung und Christoph Lingelbach: Adolf Reichwein (1898–1944). In: Heinz-Elmar Tenorth (Hg.) (2003): Klassiker der Pädagogik. Bd. 2, München 2003, 203–216.
  • Alexander Hesse: Die Professoren und Dozenten der preussischen Pädagogischen Akademien (1926–1933) und Hochschulen für Lehrerbildung (1933–1941). Weinheim 1995. 
  • Alexander Hesse: Adolf Reichwein (1898–1944). Klassiker der Pädgogik, Vorbild oder der bildungshistorische Schlüsselfigur? In: Jahrbuch für Volkskunde 2001, 135–154.
  • Christine Hohmann: Dienstbares Begleiten und später Widerstand. Der nationale Sozialist Adolf Reichwein im Nationalsozialismus. Bad Heilbrunn 2007. 
  • Wolfgang Werth: Die Vermittlung von Theorie und Praxis an den preußischen Pädagogischen Akademien 1926–1933 – dargestellt am Beispiel der Pädagogischen Akademie Halle/Saale (1930–1933). Frankfurt a.M. 1985.

Bild: Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung; Bestand des Adolf Reichwein Archivs.

Dokumente: Beurlaubung von Adolf Reichwein mit Schreiben des Kultusministers Rust vom 24. April 1933; Pressebericht aus der Deutschen Allgemeinen Zeitung vom 28.4.1933 über die „Beurlaubung“ von Dozenten der Pädagogischen Akademien. Quelle: Josef Walch: Die Pädagogische Akademie Halle, die Akademieschulen und Hans Friedrich Geist 1930 bis 1933. In: Rainer K. Wick (Hg.): Hans Friedrich Geist und die Kunst des Kindes. Bauhaus – Drittes Reich – Nachkriegszeit. Wuppertal 2003, 65–86, hier 85.

Quelle: Friedemann Stengel (Hg.): Ausgeschlossen. Die 1933-1945 entlassenen Hochschullehrer der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Halle 2016, S. 297 - 303

Autorin: Pia Schmid

Weitere Bilder und Dokumente:

Dokument: Reichwein, Adolf

Dokument: Reichwein, Adolf

Zum Seitenanfang