Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Wertheimer, Ernst

Wertheimer, Ernst

geboren:24.8.1893 Bühl (Baden)
gestorben:23.3.1978 Jerusalem
Konfession:jüdisch
Vater:Kaufmann

Wertheimer, Ernst

Physiologe

Ernst Wertheimer war seit 1921 als Assistent am Physiologischen Institut der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg angestellt. 1933 wurde er aufgrund seiner jüdischen Herkunft entlassen. 1934 wanderte er mit seiner Familie nach Jerusalem aus.

Ernst Wertheimer wurde in Bühl, einer kleinen Stadt im Schwarzwald, geboren. Sein Vater Leopold (1862–1940) betrieb hier eine Eisenwarenhandlung mit der Unterstützung von Hermine Wertheimer (1867–1948), der Mutter Ernst Wertheimers. Er hatte zwei ältere Schwestern, Fanny verheiratete Blüm (1890–1942) und Ruth verheiratete Maier (1901–1942), die beide später nach Mannheim zogen. Sein jüngerer Bruder Otto Wertheimer (1896–1973) wurde nach seinem Studium der Kunstgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München Kunsthistoriker in Berlin. Dort war er an der Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin für die Fotosammlung „Deutscher Barock“ zuständig. Nachdem 1933 aufgrund seiner jüdischen Herkunft sein Werkvertrag nicht verlängert wurde, emigrierte Otto Wertheimer im selben Jahr nach Frankreich.

Seit 1912 studierte Ernst Wertheimer an den Universitäten Heidelberg, Kiel und Bonn Medizin. In Bonn begann er, am Biologischen Institut zu forschen. Unterbrochen wurde sein Studium durch den Ersten Weltkrieg. Ernst Wertheimer trat am 1. August 1914 als Freiwilliger in den Heeresdienst ein. Von 1914 bis 1918 war er ohne Unterbrechung als Arzt im Sanitätsdienst an der Westfront tätig; zuerst für zwei Jahre in Flandern, später als Abteilungsarzt eines Feldartillerieregiments. Für diesen Einsatz erhielt er das Eiserne Kreuz 2. Klasse und die badische Verdienstmedaille. 1919 nahm Wertheimer an der Universität Heidelberg sein Studium wieder auf und schloss es im April 1920 mit dem Staatsexamen ab. In Heidelberg wurde er am 12. April 1920 mit einer Doktorarbeit zum Thema „Strumitis“, der Kropfentzündung, promoviert. Nach seinem Staatsexamen war er von 1920 bis 1921 in Berlin als Volontär-Assistent am Waisenhaus der Stadt tätig. Hier begann er, sich intensiv mit Fragen zum Thema Ernährungsstörungen und Infektionskrankheiten bei Säuglingen zu beschäftigen. 1921 wechselte Wertheimer als Assistent an das Physiologische Institut der Vereinigten Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg, das unter der Leitung von Emil Abderhalden (1877–1950) stand. Im Jahr 1923 habilitierte sich Wertheimer zum Thema „Irreciproke Permeabilität“. In dieser Arbeit ging es um die Durchlässigkeit von Farbstoffen durch die Froschhaut. Nach seiner Ernennung zum nichtbeamteten außerordentlichen Professor ( n.b.a.o. Professor) im Jahr 1927 wurde er zwei Jahre später am 1. August 1929 im Physiologischen Institut als planmäßiger Oberassistent angestellt und stieg somit auch in der Besoldungsgruppe auf. Die Zusammenarbeit mit Emil Abderhalden ergab für Wertheimer eine intensive Forschungstätigkeit, aus der über vierzig gemeinsame Publikationen entstanden. Vor allem die Vitamin-B-Forschung und Untersuchungen zum Fettstoffwechsel prägten seine Arbeit in der Zeit in Halle.

1933 änderte sich die Situation für Ernst Wertheimer radikal. Emil Abderhalden hatte zwar am 27. Februar 1933 die turnusmäßige Verlängerung der planmäßigen Oberassistentenstelle am Physiologischen Institut für weitere zwei Jahre beantragt, aber diese Verlängerung wurde nicht genehmigt. Am 30. März 1933 erhielt Wertheimer die Kündigung der Stelle als Oberassistent zum 30. September 1933. Auffällig ist, dass Wertheimer bereits einige Tage vor dem Inkrafttreten des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933“ entlassen worden ist. Trotz seiner Kündigung füllte Wertheimer im Juni 1933 den „Fragebogen“ aus, wie es vorgeschrieben war. In diesem Bogen gab er an, dass sowohl er als auch seine Eltern sowie Großeltern „jüdisch“ seien.

Auch nach seiner Kündigung gab Wertheimer weiterhin Seminare und hielt Vorlesungen, um seine Venia Legendi an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg nicht zu verlieren. Im Wintersemester 1933/1934 hielt er Vorlesungen mit den Titeln „Einführung in die Physiologie“ und „Neue Erkenntnisse der Physiologie“. Im Sommersemester 1934 las er eine „Einführung in die Physiologie des Nervensystems und der Sinnesorgane“ sowie die „Allgemeine Physiologie“. Er war weiterhin wissenschaftlich aktiv: Noch 1933 und 1934 publizierte er Artikel in „Pflüger’s Archiv“, einer damals führenden Fachzeitschrift für Medizin und Physiologie. Der letzte Artikel, den Ernst Wertheimer dort einreichte – „Über die ersten Anfänge der Zuckerassimilation. Versuche an Hefezellen“ –, wies bereits auf seine geplante Emigration hin: Wertheimer hatte als Institution das „Physiologische Institut der Universität Halle“ sowie das „Laboratorium des Hadassah-Krankenhauses Jerusalem“ angegeben.

Unmittelbar nach der Kündigung 1933 bemühte er sich um eine Anstellung an einer anderen Universität. Er erhielt ein Stellenangebot aus Moskau als Leiter eines biochemischen Laboratoriums, einen Ruf auf den Lehrstuhl der Physiologie an der Sun-Yat-Sen-Universität in Kanton sowie ein weiteres Angebot zur Leitung des pathologischchemischen Laboratoriums des Hadassah-Krankenhauses, das erst 1934 gegründet worden war und der noch jungen Universität Jerusalem nahestand. Wertheimer sah eine Chance und ergriff sie: Im Sommer 1934 siedelte er mit seiner Frau Ruth, geborene Lehmann, mit der er seit dem 24. Dezember 1928 verheiratet war, nach Jerusalem über und leitete seit dieser Zeit das pathologisch-chemische Labor des Hadassah-Krankenhauses der Hebräischen Universität.

Sein Antrag auf Beurlaubung als Dozent der Universität Halle-Wittenberg für zwei Jahre, den er im Juni 1934 stellte, wurde vom Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung ohne Begründung abgelehnt. Der Universität Halle-Wittenberg wurde nahegelegt, „Wertheimer für den Fall der Verlegung seines Wohnsitzes ins Ausland zu veranlassen, seine Venia Legendi niederzulegen“.

Im Oktober 1934 schrieb Ernst Wertheimer, bereits aus Jerusalem, um der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg mitzuteilen, er verzichte auf seine Venia Legendi. In diesem knappen Brief schreibt er:

„Rothschild Hospital (Hadassah Medical Organization)
25. September 1934

An den Herrn Kurator der Universität Halle/S.

[…] Ich teile Ihnen höflichst mit, dass ich auf meine venia legendi an der Universität Halle
hiermit verzichte.

E. Wertheimer
Prof. an der Hebr. Universität Jerusalem
Leiter des path.-chem. Labors de. Hadassah Krankenhauses.“

Möglicherweise waren am Kontakt zur Universität Jerusalem Emil Abderhalden sowie sein ehemaliger Kollege aus dem hallischen Institut für Physiologie Andor Fondor (1884–1968) beteiligt. Dieser war bereits 1924 nach Palästina ausgewandert, um dort das Institut für Chemie aufzubauen. Später wurde Fondor Professor für Chemie an der Universität Jerusalem. Auch Wertheimer machte hier Karriere. Er forschte intensiv zum Diabetes und wurde 1956 für seine Forschungsergebnisse mit dem renommierten „Israel Prize for Medical Research“ ausgezeichnet. 1964 erhielt er als Anerkennung für seine Forschung die „Banting Medaille“ der American Diabetes Association und den „Bublick Prize“ der Hebräischen Universität Jerusalem.

Das Schicksal seiner Angehörigen verlief sehr unterschiedlich. Ernst Wertheimers Eltern Leo und Hermine zogen 1938 nach der „Reichskristallnacht“ zu ihren beiden Töchtern nach Mannheim. Im Oktober 1940 wurden alle jüdischen Bürger aus Saarland, Pfalz und Baden – mehr als 6.500 Menschen – in das südfranzösische Lager Camp de Gurs deportiert. Davon war auch die Familie Wertheimer betroffen. Leo Wertheimer starb dort knapp sechs Wochen später am 5. Dezember 1940, die beiden Schwestern Ernst Wertheimers, Fanny Blüm und Ruth Maier, kamen 1942 in Ausschwitz ums Leben. Sein Bruder Otto Wertheimer war bereits 1933 ins Exil nach Frankreich gegangen und erwirkte von dort aus die Freilassung der Mutter Hermine aus dem Lager. Sie siedelte anschließend nach Jerusalem zu ihrem Sohn Ernst über und starb dort 1948. Ernst Wertheimer starb 1978 im Alter von 85 Jahren in Jerusalem und hinterließ seine Ehefrau Ruth sowie vier Töchter: Ayala (geb. 1935), Naomi (geb. 1937), Ada (geb. 1945) und Dorit (geb. 1947), die alle Medizin studierten und als Ärztinnen tätig waren und teilweise noch sind. Seine Tochter Ada Goldfarb ist, wie schon ihr Vater, am Hadassah Hospital in Jerusalem tätig, seine Tochter Dorrit Nitzan ist Professorin an der Fakultät für Zahnmedizin der Hebrew University in Jerusalem.


Ausgewählte Publikationen von Ernst Wertheimer

  • Stoffwechselregulationen. In: Pflüger’s Archiv 213 (1926), 298–320.
  • Untersuchungen über die Permeabilität einer isolierten überlebenden Membran. In: Protoplasma 2 (1927), 602–629.
  • Über die Fettwanderung. In: Naunyn-Schmiedebergs Archiv für experimentelle Pathologie und Pharmakologie 160 (1931), 177–188.

Quellen und Literatur

  • UAH PA 16946. Die abgedruckten Dokumente stammen aus dieser Personalakte; die im Text verwendeten Zitate beziehen sich ebenfalls durchweg auf Schriftstücke aus der Personalakte. 
  • Michael Kaasch und Joachim Kaasch: Wissenschaftler und Leopoldina-Präsident im Dritten Reich: Emil Abderhalden und die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. In: Christoph J. Scriba (Hg.): Die Elite der Nation im Dritten Reich. Das Verhältnis von Akademien und ihrem wissenschaftlichen Umfeld zum Nationalsozialismus. Halle 1995, 213–245.
  • Research Foundation for Jewish Immigration: Ernst Haim Wertheimer. In: Institut für Zeitgeschichte München und der Research Foundation for Jewish Immigration (Hg.): Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933. Bd. 2, München 1983, 1238.
  • Stadtjugendamt Mannheim: „Auf einmal da waren sie weg“. Jüdische Spuren in Mannheim. Mit einer Gedenkliste jüdischer Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft aus Mannheim. Mannheim 1995.

Anmerkung des Herausgebers: Bild um 1930 (S. 364), hinten rechts: Ernst Wertheimer, vorne rechts: Emil Abderhalden, Wertheimers Institutsleiter und ab 1932 Präsident der Leopoldina. Zu Abderhaldens Rolle bei der Streichung jüdischer Gelehrter aus der Mitgliedschaft der Leopoldina vgl. insbesondere den Beitrag zu Carl Tubandt in diesem Band sowie Kaasch/Kaasch 1995. Die Geschichte der Leopoldina – und auch die Rolle ihres Präsidenten Abderhalden – in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird derzeit (2013) von einer Forschergruppe untersucht, die von Prof. Dr. Rüdiger vom Bruch geleitet wird. Für den Abdruck der Fotos wird Frau Prof. Dorit Nitzan (Jerusalem), einer Tochter Ernst Wertheimers, herzlich gedankt.

Quelle: Friedemann Stengel (Hg.): Ausgeschlossen. Die 1933-1945 entlassenen Hochschullehrer der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Halle 2016, S. 357 - 364

Autoren: Florian Steger unter Mitarbeit von Dajana Napiralla

Weitere Bilder und Dokumente:

Dokument: Wertheimer, Ernst

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