Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Woskin-Nahartabi, Mojzis

Woskin-Nahartabi, Mojzis

geboren:16.12.1884 Nahartaw (Südrussland, Gouvernement Cherson)
gestorben:19.10.1944 Auschwitz
Konfession:jüdisch
Vater:Ackerbauer

Woskin-Nahartabi, Mojzis

(auch Mojssej oder Mojssch sowie Nehartabi)

Semitist und Hebraist

Als Sohn des Ackerbauern Arie Woskin und Fenija (geb. Menkes) wuchs Woskin-Nahartabi in einer deutsch-jüdischen Kolonie in einer bewusst jüdischen Familie auf. Im Fragebogen vom 3. Juli 1933 notierte Woskin-Nahartabi ausdrücklich: „Ich bin Jude“. Seine Großeltern mütterlicherseits – der Großvater Dow Menkes war Rabbiner in Schitomir – waren bereits nach Palästina ausgewandert und 1907 und 1909 in Jerusalem verstorben.

Nach mehrjährigen Studien an einer deutschen Kolonialschule und einer Talmudschule in Litauen besuchte er von 1905 bis 1908 ein Lehrerseminar in Frankfurt a.M., zugleich absolvierte er die Vorbereitungsschule für rabbinische Berufe. Am Berliner Königlichen Prinz-Heinrich-Gymnasium erwarb der 27-Jährige im März 1912 die Hochschulreife. An der Berliner Universität schrieb sich Woskin für Geschichte und Philosophie ein – im Lebenslauf hebt er ausdrücklich die Geschichte des Altertums und des Mittelalters hervor. Seine Lehrer waren hier Eduard Meyer (1855–1930), Hermann Dessau (1856–1931), Dietrich Schäfer (1845–1929) und Georg Simmel (1858–1918). Gleichzeitig studierte er bis zum Examen im Dezember 1913 an der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums bei Ismar Elbogen (1874–1943), Eduard Baneth (1855–1930) und Abraham Shalom Yahuda (1877–1951).

Während des Ersten Weltkrieges musste er als Ausländer Berlin verlassen und zog nach Halle, wo er als Lehrer arbeitete. Zum Sommersemester 1918 immatrikulierte sich Woskin-Nahartabi an der Vereinigten Friedrichs-Universität in Halle und studierte orientalische Philologie bei Carl Brockelmann (1868–1956) und Hans Bauer (1878–1937). 1924 wurde er mit einer Arbeit über „Die Entwicklung der hebräischen Sprache von ihrem literarischen Beginn bis zur Vollendung des wissenschaftlichen Stiles“ promoviert. Schwerpunkt seiner Forschung in dieser Arbeit, die bis zum Mittelalter reicht, ist das Mittelhebräische der Mischna und der Midraschim. Woskin gilt überdies als einer der bedeutendsten Vertreter des Neuhebräischen in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg.

Mit Schreiben des Ministers vom 26. Juli 1926 wurde er zum Lektor für Rabbinische Sprache und Literatur in Halle ernannt. Seit Herbst 1926 wurde seine Lehrtätigkeit an der Theologischen und an der Philosophischen Fakultät auch vergütet.

Woskin-Nahartabi wohnte in Leipzig, unter anderem in der Hohen Straße 17 und in der Wiesenstraße 21. Im Herbst 1923 hatte er in der Leipziger Pfaffendorfer Straße 4 die erste hebräische Privatschule in Deutschland „Techija“ (Wiederbelebung) für hebräische Sprache und Literatur gegründet, zu der auch ein reformpädagogischer Kindergarten gehörte, der nach den Ansätzen von Friedrich Fröbel und Maria Montessori konzipiert war. Schon zwei Jahre zuvor hatte er ein hebräisches Lesebuch für Kinder „Liladenu“ herausgebracht, kunstvoll illustriert von dem Bildhauer, Autor und Arzt Raphael Chamizer (1882–1957). An der „Techija“ war es Erwachsenen und Kindern möglich, Alt- und Neuhebräisch zu erlernen und sich mit jüdischer Geschichte, Literatur und der Geographie Palästinas zu befassen. Schule und Kindergarten wurden nicht durch die jüdische Gemeinde, sondern von einem Schulverein finanziert.

Am 6. Dezember 1929 erwarb Mojzis Woskin-Nahartabi zusammen mit seiner Frau Fanja (geb. Mittelmann am 1. August 1892 in Mogilew), einer promovierten Ärztin und praktizierenden Physiotherapeutin, und ihrer am 3. September 1927 geborenen Tochter Tamara die sächsische und damit die deutsche Staatsangehörigkeit.

Anfang 1933 wurde in Halle bekannt, dass die estnische Universität Dorpat mit Woskin-Nahartabi über eine Berufung verhandelte. Die Dekane der Theologischen und der Philosophischen Fakultät, der Kirchenhistoriker Ernst Kohlmeyer (1882–1959) und der Kunsthistoriker Paul Frankl, der 1933 wegen seiner jüdischen Vorfahren ebenfalls entlassen wurde, schrieben am 23. Februar 1933, drei Wochen nach der Machtübernahme durch die NSDAP, an den Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung und wiesen auf den „zweifachen Verlust“ hin, der der Universität durch den Weggang von Woskin-Nahartabi entstehen würde: in der Lehre des Hebräischen den Studenten und als kompetenter Ratgeber „eine[r] Anzahl von Dozenten“ aus den Gebieten der alt- und neutestamentlichen Wissenschaft, der Geschichte des Urchristentums, der Alten Geschichte und der semitischen Philologie, für die Woskin-Nahartabis Rat eine „stellenweise unentbehrliche Voraussetzung“ sei. Auch daher sei das Bleiben Woskins, der „uneigennützig“ und vorbildlich seine Verpflichtungen erfüllt habe, von „Wichtigkeit“. Frankl und Kohlmeyer schlugen vor, ihm die vollen Bezüge eines Universitätslektors zu gewähren, um seinen Weggang zu verhindern.

Am 27. September 1933 wurde die Entziehung „des Auftrags zur Wahrnehmung der Aufgaben eines Lektors“ nach § 3 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums ausgesprochen. Die Dekane der Theologischen und der Philosophischen Fakultät, Hilko Wiardo Schomerus (1879–1945) und Ferdinand Josef Schneider (1879–1954) legten am 15. November 1933 Widerspruch beim Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung gegen diese Entscheidung ein; der Universitätskurator reichte das Schreiben „mit Befürwortung“ weiter. Schneider und Schomerus beriefen sich in ihrer Argumentation für die Notwendigkeit der „Pflege“ des Faches „rabbinische Sprache und Literatur“ ausgerechnet auf den völkischen und antisemitischen Theologen und Orientalisten Paul de Lagarde (1827–1891), der in der NS-Rassenlehre massiv rezipiert worden ist und die These vertrat, dass das Judentum die Bildung der deutschen christlichen Nation verhindere, das Christentum vom Judentum gereinigt werden müsse und nicht einmal die Bekehrung zum Christentum aus einem Juden einen Deutschen mache. De Lagarde habe, so Schneider und Schomerus, „schon vor vielen Jahren“ die Beschäftigung mit dem Judentum „mit großem Nachdruck“ gefordert. Das Fach könne, gerade auch im Hinblick auf talmudische Kenntnisse, „in befriedigender Weise“ nur von „jüdischen Gelehrten“ vertreten werden, ebenso wie man für Französisch und Englisch Muttersprachler brauche und „auch Martin Luther bei seinen biblischen Arbeiten immer Rabbiner zu Rate gezogen hat“.

Dieser Einspruch führte zwar nicht zu einer Wiedereinstellung als Lektor, aber Woskin-Nahartabi wurde laut Schreiben des Universitätskurators vom 7. Juni 1934 als „Hilfsarbeiter“ weiterbeschäftigt, sogar seine früheren Bezüge wurden in Aussicht gestellt.

Am 5. Februar 1934 wurde die Einbürgerung der Familie Woskin von der Kreishauptmannschaft Leipzig widerrufen, allerdings hob der Kreishauptmann am 27. November 1934 diese Entscheidung nach Woskins Widerspruch wieder auf: „Die Genannten behalten die deutsche Reichsangehörigkeit.“

Von 1925 an war Woskin bereits im Unterrichts- und Erziehungsausschuss der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig tätig, seit 1935 wirkte er auch im Vorstand und in dem jüdischen Gesangsverein „Hasamir“. Häufig trat er als Referent bei den Veranstaltungen der Israelitischen Religionsgemeinde auf. Nach 1933 wurden an der „Techija“ neuhebräische Intensivkurse für Auswanderer nach Palästina angeboten. Auch das Arabische geriet in diesem Zusammenhang in die Lehrprogramme der Schule. Woskin-Nahartabi versuchte selbst ohne Erfolg, in Jerusalem eine Anstellung zu bekommen. 1936 folgte er einem Ruf des Obersten Rates der jüdischen Gemeinden der Tschechoslowakei in Prag und zog mit seiner Familie dorthin um. In Prag lebte er in der Krakovská 13. Die letzten Schriftzeugnisse in seiner hallischen Personalakte beziehen sich auf den Schriftverkehr um seine Wiedereinbürgerungsurkunde, die offenbar auf dem Postweg verloren gegangen oder gar nicht abgeschickt worden war. Im Besitz des Instituts für Nahost- und Afrika-Studien der Karls-Universität Prag befinden sich Bücher und Lehrmaterialien aus Woskins Lehrtätigkeit in der Jüdischen Kultusgemeinde, die nach der Shoah auf unbekanntem Wege dorthin gelangt sind und erst kürzlich entdeckt wurden.

Am 13. Juli 1943 wurde Woskin mit seiner Frau und seiner Tochter nach Theresienstadt deportiert. Auch hier bot er Sprachkurse in Alt- und Neuhebräisch und in Arabisch an. In seinen Kursen wurden Übersetzungen aus dem Hebräischen ins Arabische und umgekehrt angefertigt. Offenbar war dieses Sprachtraining eine Vorbereitung auf die erhoffte Auswanderung nach Palästina. In den „Yad Vashem Collections“ befinden sich Lehrbücher aus den Theresienstädter Kursen von Woskin-Nahartabi.

Zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter wurde Mojzis Woskin-Nahartabi am 19. Oktober 1944 nach Auschwitz deportiert. Hier wurde er ermordet.


Ausgewählte Publikationen von Mojzis Woskin-Nahartabi

  • Die Entwicklung der hebräischen Sprache. Von ihrem literarischen Beginn bis zur Vollendung des wissenschaftlichen Stiles. Diss. phil. Halle 1924 (MS). 
  • לִילָדֵינוּ [Liladenu – FS]. Für unsere Kinder. Hebr. Lesebuch. Von Mojssej Woskin-Nehartabi, illustriert von Raphael Chamizer. Leipzig 1921.

Quellen und Literatur

  • UAH PA 17293.
  • Staatsarchiv Leipzig PP-M 1468; Stadtarchiv Leipzig StvAkt H 2 Bd 12, Bl. 172f., 254.
  • http://www.yadvashem.org/yv/en/exhibitions/our_collections/terezin/index.asp (Stand 29.6.2013); http://www.drz-sachsen.org/leipzig/personen/Woskin-NahartabiMojssch.html (Stand 29.6.2013).
  • Barbara Kowalzik: Lehrerbuch. Die Lehrer und Lehrerinnen des Leipziger jüdischen Schulwerks 1912–1942, vorgestellt in Biogrammen, hg. von der Stadt Leipzig. Leipzig 2006, 255–258.
  • Lebenslauf in: M. W.-N.: Die Entwicklung der hebräischen Sprache. Von ihrem literarischen Beginn bis zur Vollendung des wissenschaftlichen Stiles. MS Diss. phil. Halle 1924. 
  • Erich Fascher: Große Deutsche begegnen der Bibel. Eine Wegweisung für deutsche Christen. 2. Aufl. Halle 1937, 116–126.
  • Hubert Lang: Raphael Chamizer. Arzt und Bildhauer. In: Leipziger Blätter 18 (1991), 64–66.

Bild: Porträt von Max Placek (1902–1944), gezeichnet 1943 im Ghetto Theresienstadt. Für den Abdruck wird der Shoah-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel gedankt, die die Zeichnung auf der oben genannten Webseite abbildet.

Schreiben der Dekane Hilko Wiardo Schomerus und Ferdinand Josef Schneider und Fragebogen: UAH PA 17293.

Umschlag, Titelblatt und Abbildungen aus: לִילָדֵינוּ [Liladenu – FS]. Für unsere Kinder. Hebr. Lesebuch. Von Mojssej Woskin-Nehartabi, illustriert von Raphael Chamizer. Leipzig 1921.

Quelle: Friedemann Stengel (Hg.): Ausgeschlossen. Die 1933-1945 entlassenen Hochschullehrer der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Halle 2016, S. 365 - 380

Autor: Friedemann Stengel

Weitere Bilder und Dokumente:

Dokument: Woskin-Nahartabi, Mojzis

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